Nigger Heaven - Roman
Shawl, der nachlässig über die Sofalehne hing und mit seinen langen Fransen den Boden streifte. Die Dame war berückend schön. Obgleich anscheinend von hellbrauner Hautfarbe – ungefähr wie sie selbst, fand Mary –, hatten die Züge nichts Negroides. Vielleicht waren sie spanischen oder portugiesischen Ursprunges. Die Nase war zierlich, der Mund herausfordernd und sinnlich. Die kleinen Ohren schmückten birnenförmige Perlen. Das schwarze wellige Haar war streng von der Stirn über die Ohren zurückgestrichen und kurz geschnitten. Die Dame war nach der letzten Mode gekleidet und verstand es, wie Mary sofort erkannte, ihre Kleidung auf eine Art und Weise zur Geltung zu bringen, wie es nur sehr selten der Fall ist. Mary lebte noch nicht lange in Harlem, hatte in dieser Zeit aber häufig die weißen Theater in Manhattan besucht, und sie hatte oft die Gelegenheit gehabt, weiße Frauen in den Restaurants zu beobachten, und kannte einige sogar persönlich. Die Schönheiten Harlems waren ihr alle bekannt, und die berühmten Tänzerinnen und Sängerinnen im Vaudeville-Theater und in den farbigen Revuen erkannte sie auf den ersten Blick. Aber sie konnte sich an keine Frau irgendeiner Rasse erinnern – mit Ausnahme, wie ihr jetzt einfiel, der ganz unglaublichen Mrs Lorillar –, die einen ähnlich lebhaften Eindruck bei ihr hinterlassen hätte. Die Ausstrahlung dieser Frau war ohnegleichen. Um das Bild näher zu betrachten, nahm Mary den schweren Silberrahmen vom Kaminsims. Was war das Geheimnis dieser Frau, dass sogar ein lebloses Foto ihr diese ungeheure Vitalität verlieh? Mary wusste es nicht. Dennoch spürte sie sofort die starke sexuelle Anziehungskraft, die dieser geschmeidige Körper ausstrahlte. Sie war, wie auch immer, durch die Linse auf das Negativ gedrungen und dann für immer auf dieses Stück Papier gebannt worden. Als Adora zurückkam, stellte Mary das Bild wieder auf den Kaminsims.
»Ein reizendes Zimmer«, kommentierte sie.
»Gefällt es Ihnen? Ich frage mich, ob es mir entspricht. Ein Innenausstatter hat es für mich arrangiert.«
»Es ist bezaubernd. Ich stelle Sie mir aber eher in einem spanischen Dekor vor.«
»Das Speisezimmer ist spanisch. Ich zeige es Ihnen später. Die Möbel sind so schwer, dass ich Lastenträger kommen lassen muss, wenn es gereinigt werden soll!«
»Ich bewunderte gerade diese Fotografie.«
»Hübsch, nicht wahr?«
»Mehr als hübsch. Sie ist wunderschön. Wer ist sie?«
Adora sah sie verblüfft an. »Das wissen Sie nicht? Das ist Lasca Sartoris.«
»Das also ist die berühmte Mrs Sartoris! Ollie erzählte mir, dass sie wieder in der Stadt ist.«
Eine Fülle von Erinnerungen, angeregt durch die nun identifizierte Fotografie, jagte durch Marys Gehirn. Lasca Sartoris! Sie war in Harlem eine beinahe legendäre Gestalt. Sie hatte in Paris einen reichen Afrikaner geheiratet und ihn später verlassen, um sich einem Musiker aus einem Nachtlokal hinzugeben. Aber sie war auch hier vom Glück begünstigt, denn ihr Gatte war in der Nacht, in der sie ihn verließ, an einem Schlaganfall gestorben, ohne etwas von ihrem Fehltritt zu ahnen, und sein einige Monate zuvor verfasstes Testament vermachte den größten Teil seines Vermögens seiner Gattin. Als sie Zugriff auf das Geld hatte, war der Musiker längst vergessen und ein neues Abenteuer gefunden. Man verfolgte in Harlem im Allgemeinen die Berichte über Lascas Affären mit beiläufigem Interesse. Ihre Bekannten schienen sie wirklich zu mögen, und der Rest, wie jemand Mary gegenüber bemerkt hatte, würde schlussendlich durch ihr Geld, ihre Schönheit, ihren Witz und ihren Charme bekehrt werden. Sie ist zweifellos unkonventionell, hatte diese Frau zu Mary gesagt, aber sie ist eben Lasca – wenn man sie kennt, verzeiht man ihr meistens. Jetzt, nachdem sie das Foto gesehen hatte, glaubte Mary, das verstehen zu können.
»Ja, sie ist wieder hier. Ich vergesse immer, dass Sie noch nicht so lange hier leben, es sind etwas mehr als zwei Jahre, nicht wahr? Lieber Gott!« Adoras Augen schienen in die Vergangenheit zu blicken. »Ich erinnere mich noch an die Zeit, als es kein Harlem gab und wir zu Marshall´s in der 53 th Street gingen, um etwas zu essen zu bekommen und um Florence Mills singen zu hören. Ich sehe noch die grüne und rote Tapete vor mir … So etwas hätte ich jetzt gern!« Adora seufzte. »Es hat seither genügend Lokale und Sängerinnen gegeben, aber ich glaube, nicht ganz so gute wie Marshall´s und Florence,
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