Night School 01 - Du darfst keinem trauen
Jerry entschieden.
Er hatte kaum zu Ende gesprochen, da setzten sich alle in Bewegung. Sylvain und Jerry legten sich Phils Arme über die Schultern und trugen ihn. Zelazny eilte ihnen voraus. Als ob sie jemand wachgerüttelt hätte, trat Jo zu Gabe und umarmte ihn.
Allie ging hinüber zu Carter und wollte ihn stützen, doch er riss sich los.
»Mir geht’s gut«, wies er sie schroff ab.
Allie wich zurück und wurde rot.
»Ach ja? Dann möchte ich nicht wissen, wie du aussiehst, wenn’s dir mal schlecht geht«, knurrte sie.
Er schnaubte verächtlich, lief aber neben ihr her, mit einer Armlänge Sicherheitsabstand.
»Was war das denn, Carter?«, fragte Allie, sobald sie außer Hörweite der anderen waren. »Wieso sind denn alle auf einmal so ninjamäßig drauf? Das war ja gruselig.«
»Gar nichts war«, sagte Carter. »Ein Unfall. Kommt vor.«
» Kommt vor ?«, fragte Allie ungläubig. »Ein Unfall im Wald bei strömendem Regen, bei dem die halbe Schülerschaft verblutet, … kommt vor?«
Der finstere Blick, den er ihr zuwarf, wurde durch das Blut, das ihm übers Gesicht rann, noch mörderischer.
»Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du zur Übertreibung neigst?«
»Nein. Und hat dir schon mal jemand gesagt, dass du zur Arschlöchigkeit neigst?«
Danach war Funkstille.
Im prasselnden Regen gingen sie weiter. Nach einer Weile warf Allie Carter einen Seitenblick zu. Ihre Wimpern waren so voller Regentopfen, dass sie ihn wie durch einen Wasserfall hindurch wahrnahm. Doch Carter starrte stur nach vorne.
Als sie die Schule erreichten, wurden sie schon von Isabelle erwartet, die in einem langen, weißen Regenmantel oben auf der Treppe stand. Der Regen trommelte gegen ihre Kapuze und machte dabei ein stumpfes Plastikgeräusch.
»Carter. Allie. Alles klar mit euch? Carter, du siehst ja furchtbar aus.«
»Es geht schon«, versetzte er. »Ein paar Stiche, mehr nicht.«
Isabelle sah ihn prüfend an und wandte sich dann Allie zu. »Und was ist mit dir? Bist du verletzt?«
Allie schüttelte den Kopf, und Wasser spritzte auf ihre Nase.
»Gut. Carter, du gehst auf die Krankenstation. Allie, kommst du bitte mit mir?«
Ohne ihre Antwort abzuwarten, machte sie kehrt und lief federnden Schrittes wieder nach drinnen.
Allie schickte sich an, ihr zu folgen, doch Carter packte sie am Ellbogen. Er sah aus wie das Opfer in einem Horrorfilm.
»Wir müssen uns treffen«, sagte er. »Ich warte kurz vor der Nachtruhe im Rittersaal.« Dann stiefelte er in die Schule, eine Wasserspur hinterlassend.
Allie runzelte die Stirn und sah ihm hinterher.
»Hätt’ste wohl gern«, murmelte sie, dann eilte sie Isabelle nach.
Sie gingen am Aufenthaltsraum vorbei und dann durch eine Tür, die so raffiniert in der Holzvertäfelung verborgen war, dass Allie sie nie bemerkt hatte. Dahinter befand sich ein geräumiges, fensterloses Büro mit Kamin, auf dessen in Stein gehauenem Sims lauter unangezündete Kerzen standen. Eine Wand war komplett mit einem Gobelin bedeckt – er zeigte einen Ritter mit Schwert und eine Dame neben einem Pferd. Isabel reichte ihr ein weiches, weißes Handtuch. Allie rubbelte sich das Wasser aus den Haaren und drapierte das Handtuch danach bibbernd um ihre Schultern. Kaum dass sie im Haus war, fror sie.
»Bitte setz dich.« Isabelle deutete auf zwei Ledersessel, die gegenüber von ihrem Schreibtisch standen. Sie ließ sich auf der Schreibtischkante nieder und beobachtete Allie. Aus verborgenen Lautsprechern kam gedämpft klassische Musik.
»Und dir geht’s wirklich gut? Sicher?«, fragte Isabelle. Als Allie nickte, fuhr sie fort. »Gut. Ich wollte nur kurz mit dir sprechen, dann schick ich dich hoch, damit du dir was Trockenes anziehst. Du wirst keinen Ärger kriegen, aber ich muss einfach wissen, was heute Abend vorgefallen ist.«
Allie sah sie verdutzt an. »Ich verstehe nicht …?«
»Ich möchte wissen, was ihr da draußen beim Pavillon gemacht habt? Erzähl’s mir von Anfang an.«
Allie wickelte sich das Handtuch noch enger um die Schultern und dachte fieberhaft nach. Bekam jetzt irgendwer Ärger?
Krieg ich Ärger?
»Wir haben bloß … nach Gabe gesucht«, sagte sie vorsichtig. »Jo wollte, dass wir uns an ihn heranschleichen und ihn überraschen, aber wir haben ihn nicht gefunden. Wir sind vor dem Regen in den Pavillon geflüchtet, und dann haben wir die Jungs aus dem Wald kommen sehen.«
Ihr war unwohl bei dem Gedanken, Isabelle anzulügen, aber irgendwas an der ganzen Sache war faul.
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