Night School 02 - Der den Zweifel saet
hinweg griff sie nach Allies Handgelenk, sah auf ihre Uhr und prüfte den Puls. Dann kontrollierte sie die Zahlen auf einer Maschine neben dem Bett und schrieb die Ergebnisse auf.
»Wie geht es dir?«, fragte die Ärztin.
»Tut weh. Durst.«
»Ich werde dir was gegen die Schmerzen geben.« Sie reichte Sylvain eine Tasse mit Strohhalm. »Aber nicht zu viel, und nur ganz kleine Schlucke. Ich bin gleich zurück.«
Sylvain hielt Allie die Tasse an die Lippen. Das lauwarme Wasser schmeckte köstlich. Allie wollte es ganz austrinken, doch er zog die Tasse fort. Das machte aber nichts. Trinken tat sowieso zu sehr weh.
Ihre Augen suchten seine. »Jo …?«
Er erbleichte. »Nicht reden, Allie. Die Ärztin möchte, dass du ruhig liegen bleibst. Wir reden später.«
Panik stieg in ihr auf. Der Herzmonitor neben dem Bett schlug Alarm.
»Jo?«
Sylvain hatte sich halb erhoben. »Doktor!«
»Bin schon da.« Sie tauchte neben ihm auf, eine Spritze in der Hand. »Nicht bewegen«, sagte sie streng. »Du musst stillhalten.«
Allie sah hilflos zu, wie sie ihr den Inhalt der Spritze in die Vene drückte. Etwas stimmte nicht, aber sie wusste nicht genau, was. Dann war es ihr plötzlich egal.
Alles wurde dunkel.
Als sie das nächste Mal aufwachte, war es Nacht. Bett und Umgebung waren in ein goldenes Licht getaucht. Im Stuhl neben ihr saß nun Isabelle und las in einem Stapel Papiere. Die Brille war ihr auf die Nasenspitze gerutscht.
»Isabelle«, versuchte Allie zu sagen, doch wieder war ihre Kehle zu trocken. Die Rektorin musste aber ihre Bewegung bemerkt haben, denn sie legte die Papiere beiseite und beugte sich vor.
Das Gesicht war noch geschwollen, doch der Schmerz war nicht mehr ganz so schlimm. Allie drehte langsam den Kopf und stellte fest, dass der Raum ansonsten leer war. »Sylvain?«
Isabelle beugte sich vor, ihr Blick war düster. »Ich hab ihn auf sein Zimmer geschickt, damit er etwas Schlaf bekommt, Allie. Er hat Tage hier gesessen. Er ist erschöpft.«
»Tage?« Sie sah Isabelle an. »Wie lange …?«
»Du bist drei Tage ohne Bewusstsein gewesen, Allie. Du hast sehr schwere Verletzungen, auch am Kopf. Dein linker Arm ist gebrochen.«
Allie nickte schwach, um zu zeigen, dass sie nicht überrascht war. Dann sah sie Isabelle wieder an. »Jo.«
Es folgte eine lange Pause, doch dann antwortete Isabelle langsam und fest, als hätte sie sich auf diesen Augenblick vorbereitet. »Jo hat’s nicht geschafft, Allie.«
Bin ich das, die da so aufstöhnt?
, fragte Allie sich. Isabelle nahm ihre heile Hand und hielt sie fest. »Zoe ist so schnell gerannt, wie sie konnte, und wir waren auch rasch da, aber … Jo hatte schon zu viel Blut verloren.« Isabelle stockte. »Es war nichts mehr zu machen«, fuhr sie nach einer Weile fort. »Als wir hinkamen, war sie bereits tot.«
Eine Träne lief über Allies Wange. »Wie …?«
Die Lippen der Rektorin zitterten. »Wir haben etwas in ihrem Zimmer gefunden.«
»Was?«, fragte Allie, obwohl sie schon zu wissen meinte, was es war.
»Briefe und Notizen«, sagte Isabelle. »Von Gabe.«
Allie spürte Hass in sich aufsteigen.
»Sie standen schon länger miteinander in Verbindung. Gabe hat ihr geschrieben, dass er mit ihr sprechen will; dass er sie vermisst und es ihm leidtut. Er hat mit ihren Gefühlen gespielt, ihren ungeklärten Gefühlen für ihn. Sie müssen ein Treffen für die Nacht verabredet haben. Als sie eintraf, stand das Tor offen. Sie gerieten in Streit. Sie hat versucht wegzulaufen. Er hatte ein Messer dabei …«
Allie schluchzte auf. Sie ließ Isabelles Hand los und bedeckte ihr Gesicht. »Oh, Jo …«
War es nicht doch ihre Schuld? Hatte Jo sie nicht gewarnt, auf ihre Weise?
Ich hatte nie die Gelegnheit, ihn nach dem Warum zu fragen
, hatte sie gesagt – warum hatte sie sich nicht klargemacht, dass Jo das nie akzeptieren würde? Dass sie darauf bestehen würde, den Grund zu erfahren?
Auch Isabelle weinte jetzt. »Du hast getan, was du konntest, Allie. Niemand hätte sie retten können.«
Du lügst, Isabelle, nicht wahr?
Früh am nächsten Morgen erschien Rachel in der Tür. Sie brachte einen dampfenden Pott Kaffee und eine Schale mit Porridge. Ihre Augen waren rot und verquollen, doch sie wirkte gefasst.
»Wer weiß, ob sie dir hier oben was zu essen geben«, sagte sie und zwang sich ein trauriges Lächeln ab.
Dann setzte sie sich auf den Stuhl neben dem Bett und rührte die Haferflocken um. (»Mit braunem Zucker und Zimt, wie du es magst.«) Die
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