Night School 02 - Der den Zweifel saet
ansah, bevor sie ihrer Wege ging.
»Kein Problem – bis später.«
Vor dem Klassenzimmer lehnte Carter an der Wand und wartete auf sie, abseits der Schülermassen, die über den Flur wuselten.
»Hey«, sagte sie mit schwerem Herzen.
»Selber hey.« Er sah sie aus dunklen Augen an und bemerkte sofort ihre bekümmerte Miene.
»Also … Wollen wir uns da treffen?«, fragte er, während sie sich den Schülerpulks anschlossen, die durch die schwere Holztür ins Hauptgebäude strömten.
»Klingt gut«, sagte sie und versuchte ein Lächeln.
Er zog sie an sich und gab ihr einen Beruhigungskuss, ehe er sich beschwingten Schrittes Richtung Jungstrakt aufmachte, um seine Sachen wegzubringen.
Ihr Tennisschädel war am Morgen kaum noch zu spüren gewesen, allerdings war die mittlerweile lila gefärbte Beule an der Schläfe noch immer empfindlich, wenn man sie berührte.
In ihrem Zimmer tauschte sie den Rock gegen eine Hose. Sie kontrollierte ihr Haar im Spiegel, schnappte sich die Jacke und wandte sich zum Gehen, als etwas sie innehalten ließ. Über der Stuhllehne lag ein dunkelblauer Wollschal. Zögernd streckte sie die Hand danach aus. Feine Strickwolle, warm wie eine Umarmung.
Wo kommt der denn her?
Sie ließ den Stoff durch ihre Finger gleiten und kam zu dem Schluss, dass die Krankenschwester Isabelle über den Zwischenfall gestern Abend unterrichtet haben musste. Dass Dinge, die die Schüler brauchten, plötzlich im Zimmer auftauchten, war nicht ungewöhnlich. Die Slipper zum Beispiel, die an ihrem ersten Abend in Cimmeria einfach dagestanden hatten. Oder die frischen Handtücher und sauberen Laken ein paar Tage darauf.
Nach einem kurzen Augenblick des Zögerns schlang sie sich den neuen Schal um den Hals und betrachtete sich im Spiegel neben der Tür. Sie war blass, vermutlich von der Aufregung, und im Kontrast zu dem dunklen Schal wirkte ihre Haut wie Porzellan. Ihr dunkles, welliges Haar war lang geworden – seit dem letzten Frühjahr war sie nicht mehr beim Friseur gewesen, und nun reichte es ihr hinunter bis zu den Schulterblättern. Sie trug beerenrotes Lipgloss auf, warf sich die Büchertasche über die Schulter und verließ das Zimmer.
Sosehr sie sich auch davor fürchtete – sie war froh, dass sie die Befragung nicht noch länger hinausgeschoben hatten. Sie wollte es einfach nur hinter sich bringen. Dagegen war sie immer noch unschlüssig, wie viel sie Sylvain verraten sollte.
Soll ich ihm von Lucinda erzählen? Ihm sagen, wer ich wirklich bin? Habe ich überhaupt eine Wahl?
Wenn sie log, wurde sie womöglich der Schule verwiesen. Doch wenn sie Sylvain einweihte, musste sie ihm ihre ganze Lebensgeschichte beichten. Mit allen Geheimnissen, von denen bisher nur Carter wusste. Und mit den Geheimnissen, von denen bisher noch niemand wusste.
Im Erdgeschoss fädelte sie sich durch die Scharen von Schülern, die über den gebohnerten Boden der weiträumigen Halle Richtung Bibliothek und Aufenthaltsraum strömten. In der Eingangshalle, wo der Holz-von einem Steinboden abgelöst wurde und große Wandteppiche die alten Natursteinwände bedeckten, herrschte etwas weniger Betrieb.
Sie fasste an den eisernen Türgriff und drückte die schwere Tür auf. Kühle Luft strömte herein, die noch nach dem Regen duftete, der am Morgen gefallen war. Allie trat hinaus auf die noch nassen Steinstufen, und mit einem dumpfen Knall fiel hinter ihr die Tür zu.
Ihre Schuhe machten bei jedem Schritt ein schmatzendes Geräusch, als sie über die ausgedehnte Rasenfläche stapfte. Irgendwo wurde Fußball gespielt, und man hörte hin und wieder jemanden rufen. Zwei Jungs, die gerade von einem Waldlauf kamen, grüßten Allie im Vorübergehen, immer noch etwas außer Atem – sie kannte sie aus der Night School. Im Herbst war viel mehr los als im ruhigen, beschaulichen Sommer. Nun herrschte bis zur Nachtruhe überall auf dem Gelände geschäftiges Treiben. Doch noch immer wurde es schlagartig still, sobald sie den Wald betrat. Während sie allein den vertrauten Pfad entlangging, der dank des Blätterdachs weitgehend trocken geblieben war, fiel ihr auf, dass der Farn rechts und links des Wegs wegen der Herbstkälte bereits im Absterben begriffen war. In den Ästen regte sich kaum Wind, die Bäume standen still. Obwohl es erst kurz nach drei war, wirkte das Sonnenlicht bereits golden. Allie beschleunigte ihre Schritte und fing schließlich an zu laufen. In der Night School musste sie in letzter Zeit so viel rennen, dass sie kaum
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