Night School 03 - Denn Wahrheit musst du suchen
kalter Wut darauf zu konzentrieren, dass sie das gehässige, öde Kichern nicht mehr hörte.
Im Unterricht hatte sie sowieso keine Zeit mehr, sich damit zu beschäftigen, was wer über sie sagte. Sie war mit dem Stoff so im Rückstand, dass sie von dem, worüber die Lehrer redeten, meist nur Bahnhof verstand.
Am schlimmsten war es in Chemie. Sie schrieb zwar fleißig mit, doch als immer mehr komplexe Formeln und Diagramme die Seiten ihres Notizblocks füllten, ohne dass sie ihr das Geringste sagten, spürte sie die Panik in ihrer Kehle wie Galle aufsteigen.
Wie soll ich da jemals wieder den Anschluss finden?
Zwei Tage zuvor wäre ihr das noch völlig egal gewesen. Doch sie hatte Lucinda versprochen, dass sie in jedem Fach bestehen würde, und da so viel auf dem Spiel stand, nahm sie es sich sehr zu Herzen.
Das größte Problem war, dass ihr Chemielehrer Jerry Cole hieß, und auch wenn sie nach Kräften versuchte, dem Unterricht zu folgen, achtete sie auch sorgsam darauf, nur ja nicht seinem Blick zu begegnen.
Er war wieder ganz der Alte, der gut gelaunte Typ, der Kalauer über Atome und Molekularstrukturen riss. Er lächelte gelöst, und Allie fiel auf, dass er erfolglos versucht hatte, seine drahtigen Locken zu bändigen. Von dem zornigen Mann, der ihr tags zuvor gegenübergestanden hatte, war nichts mehr zu sehen.
Nach der Stunde schloss sie sich eilig dem Pulk an, der aus dem Klassenraum strömte. Sie wollte sich schon gratulieren, dass sie davongekommen war, als er sie beim Namen rief.
»Allie, kommst du bitte noch mal?«
Sie erstarrte, das Herz rutschte ihr in die Hose.
Kurz überlegte sie, ob sie einfach zur Tür hinauslaufen und so tun sollte, als hätte sie ihn nicht gehört. Doch dann drehte sie sich langsam und schwerfällig zu ihm um. Er bedeutete ihr, an einem Tisch in der ersten Reihe Platz zu nehmen. Dabei glitzerte seine Goldrandbrille im Licht, sodass sie seine Augen nicht sehen konnte.
Allie zögerte kurz, dann setzte sie sich und schloss steif die Arme um die Büchertasche auf ihrem Schoß. Jerry lehnte sich gegen sein Pult.
Locker ist der auch nicht gerade. Wie der die ganze Zeit nervös mit dem Fuß auf und ab wippt.
»Allie, ich wollte nur reinen Tisch machen wegen gestern. Wir hatten beide einen schweren Tag, und ich würde die Sache gern aus der Welt schaffen.« Misstrauisch beobachtete sie, wie er mit einem Seufzer die Brille abnahm. Seine Augen wirkten müde. »Weißt du, all das, was hier passiert ist – Jos Tod, deine Verletzungen –, betrifft ja nicht nur die Schüler. Auch uns Lehrer lässt das nicht unberührt. Der Stress war für uns alle in diesem Trimester enorm. Aber wenn ich dich unterrichten soll, dann musst du dich bei mir wohlfühlen. Nur damit du’s weißt: Du stehst hier nicht ständig auf dem Prüfstand bei mir. Ich hoffe also, dass wir wieder so gut zusammenarbeiten können wie früher. Ich halte dich für eine gute Schülerin – und einen guten Menschen –, und ich hab dich ausgesprochen gern in meiner Klasse.«
Er klang aufrichtig, und sie sehnte sich danach, dass alles wieder normal wurde. Er bot ihr etwas an, das ihr wirklich wichtig war.
»Ist schon okay«, sagte sie. »Und ich … möchte mich auch entschuldigen, glaube ich. Wegen … also, all den Sachen … die ich gemacht hab.«
Merklich entspannt lächelte er, als hätte er vor diesem Gespräch genauso viel Bammel gehabt wie sie. Das Lächeln war entwaffnend, und es ging ihr gleich besser.
»Gut. Das freut mich«, sagte er. »Und jetzt, wo wir das geklärt hätten … möchte ich mich mit dir über etwas viel Profaneres unterhalten – und zwar über Chemie.« Er lachte leise, und Allie lächelte höflich, während er mit einem Lappen, den er aus der Hosentasche zog, seine Brille putzte. »Du bist ganz schön hintendran, und mir ist natürlich klar, dass es schwer wird, das aufzuholen. Wenn man erst mal den Anschluss verloren hat, können die Dinge sich ziemlich schnell auftürmen, und ehe man sichs versieht …«, er hob die Hand, »… ist die Versetzung in Gefahr.«
Allie verzog keine Miene, umschloss aber die Tasche auf ihrem Schoß fester.
Will der mich sitzen bleiben lassen, oder was?
Allein dass er die Möglichkeit laut ausgesprochen hatte, empfand sie als Demütigung. Das Blut schoss ihr in die Wangen.
»Ich möchte nicht, dass es so weit kommt«, fuhr er fort, ohne ihre Anspannung zu bemerken. »Aber ich denke, du brauchst ein bisschen Hilfe, damit du wieder Anschluss findest. Ich
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