Night World - Retter der Nacht
hart, blinzelte und starrte ins Nichts.
»Es ist deine Entscheidung, Poppy. Es liegt alles bei dir.«
»Ich will leben, Jamie«, sagte sie nach einer langen Pause.
Er nickte. »Das bedeutet, dass du von hier fortmusst. Du musst deine Eltern verlassen. Sie dürfen nichts davon erfahren.«
»Ja. Daran habe ich auch gerade gedacht. Das ist so, als ob man vom Geheimdienst eine neue Identität bekommt, nicht?«
»Mehr als nur das. Du wirst in einer neuen Welt leben, in der Nachtwelt. Und es ist eine einsame Welt voller Geheimnisse. Aber du wirst darin herumspazieren, statt unter der Erde zu liegen.« Er drückte ihre Hand. Dann fuhr er sehr leise und ernst fort: »Wollen wir jetzt anfangen?«
Poppy konnte nur die Augen schließen und sich wappnen, wie sie es vor einer Spritze tat. »Ich bin bereit«, sagte sie mit tauben Lippen.
James lachte wieder. Diesmal konnte er es nicht unterdrücken. Dann setzte er sich neben sie. »Ich bin daran gewöhnt, dass die Menschen hypnotisiert sind, wenn ich es tue. Es ist schon ein bisschen seltsam, dass du wach bist.«
»Na ja, wenn ich anfange zu schreien, kannst du mich immer noch ruhig stellen«, antwortete Poppy, ohne die Augen zu öffnen.
Entspann dich, sagte sie sich selbst. Egal, wie weh es tut, egal, wie schrecklich es ist, du wirst damit fertig. Du musst! Dein Leben hängt davon ab.
Ihr Herz klopfte so stark, dass ihr Körper bebte.
»Genau hier.« James berührte mit seinen kühlen Fingern ihren Hals, als wollte er ihr den Puls fühlen.
Nun mach schon, dachte sie. Bringen wir es hinter uns.
Sie spürte die Wärme, als James sich über sie lehnte und sie sanft an den Schultern packte. Jedes Nervenende in ihrer Haut war sich seiner bewusst. Dann fühlte sie seinen kühlen Atem an ihrer Kehle und ganz schnell, bevor sie zurückzucken konnte, zwei Stiche.
Diese Reißzähne, die sich in ihr Fleisch bohrten. Sie machten zwei kleine Wunden, damit er ihr Blut trinken konnte.
Jetzt wird es wirklich weh tun, dachte sie. Sie konnte sich nicht mehr wappnen. Ihr Leben lag in der Hand des Jägers. Sie war ein Kaninchen, das in den Fängen eines Adlers steckte, eine Maus in den Klauen einer Katze. Sie fühlte sich nicht mehr wie James’ beste Freundin, sondern eher wie sein Abendessen …
Poppy, was zum Teufel tust du da? Wehr dich nicht dagegen. Es wird weh tun, wenn du dich verkrampfst.
James sprach zu ihr - aber der warme Mund an ihrem Hals hatte sich nicht bewegt. Die Stimme erklang in ihrem Kopf.
Ich verkrampfe mich nicht, dachte sie. Ich bereite mich nur auf den Schmerz vor, das ist alles.
Dort, wo die Zähne sie verletzt hatten, brannte ihre Haut ein bisschen. Poppy wartete darauf, dass es schlimmer wurde. Aber das geschah nicht. Stattdessen veränderte sich alles.
Oh, dachte sie.
Diese Wärme war wirklich angenehm. Ein Gefühl
der Erlösung, der Geborgenheit. Und der Nähe. Sie und James kamen sich immer näher, wie zwei Wassertropfen, die sich aufeinander zubewegen, bis sie sich vermischen.
Sie drang in James’ Verstand ein, konnte seine Gedanken und Gefühle spüren. Seine Empfindungen strömten in sie hinein, durch sie hindurch.
Zärtlichkeit - Besorgnis - Liebe. Eine kalte, dunkle Wut auf die Krankheit, die sie bedrohte, Verzweiflung darüber, dass es keinen anderen Weg gab, ihr zu helfen. Und Verlangen, ein Verlangen, mit ihr zu teilen, sie glücklich zu machen.
Ja, dachte Poppy.
Eine Welle süßen Gefühls überkam sie und machte sie schwindlig. Sie merkte, dass sie nach seiner Hand tastete und wie sich ihre Finger ineinander verflochten.
James, dachte sie voller Verwunderung und Glück. Sie schickte ihm den Gedanken wie eine vorsichtige Liebkosung.
Poppy. Sie fühlte seine eigene Überraschung und Freude.
Und die ganze Zeit über wuchs das träumerische, süße Gefühl. Sie erschauderte, so intensiv war es.
Wie konnte ich nur so dumm sein?, dachte sie. Mich davor zu fürchten. Es ist gar nicht schrecklich. Es fühlt sich gut und richtig an.
Sie war noch nie zuvor jemandem so nah gewesen.
Es war, als wären sie ein Wesen, nicht Jäger und Opfer, sondern Partner bei einem Tanz.
Sie konnte seine Seele berühren.
Seltsam, davor hatte er Angst. Sie spürte es. Poppy, nicht. So viele dunkle Dinge. Ich will nicht, dass du siehst, was …
Dunkel, ja, dachte sie. Aber nicht dunkel und furchtbar. Nein, dunkel und einsam. Tiefe Einsamkeit. Das Gefühl, in keine der beiden Welten zu gehören, die er kannte. Nirgendwo hinzugehören. Außer
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