Night World - Retter der Nacht
…
Plötzlich sah sie ein Bild von sich selbst. In seinen Gedanken war sie zierlich und graziös, ein Luftgeist mit smaragdgrünen Augen. Eine Elfe mit einem Kern aus purem Stahl.
So bin ich in Wirklichkeit gar nicht, dachte sie. Ich bin nicht groß und schön wie Jackie oder Marylyn …
Die Worte, die sie als Antwort hörte, schienen nicht an sie gerichtet zu sein. Sie hatte das Gefühl, dass sie etwas waren, das James in Gedanken zu sich selbst sagte.
Man liebt ein Mädchen nicht wegen seiner Schönheit. Man liebt es, weil es ein Lied singt, das nur man selbst versteht …
Dieser Gedanke wurde begleitet von dem starken Gefühl, jemanden beschützen zu wollen. Also so fühlte James, was sie betraf. Endlich wusste sie es. Als ob sie etwas Kostbares wäre, etwas, das man mit aller Macht beschützen musste …
Mit aller Macht. Egal, was ihm auch dadurch zustoßen
konnte. Poppy versuchte, dem Gedanken tiefer zu folgen, um herauszufinden, was er bedeutete. Sie bekam einen Eindruck von Regeln, nein, Gesetzen …
Poppy, es ist sehr unhöflich, den Verstand von jemandem ohne dessen Aufforderung zu durchforschen. Seine Worte klangen leicht verzweifelt.
Sie zog sich geistig zurück. Sie hatte nicht spionieren, sondern nur helfen wollen.
Das weiß ich. Sein Gedanke drang zu ihr durch und mit ihm eine Welle von Wärme und Dankbarkeit. Poppy entspannte sich und genoss das Gefühl, eins mit ihm zu sein.
Ich wünschte, das würde ewig währen, dachte sie - und genau in diesem Moment hörte es auf. Die Wärme an ihrem Hals verschwand. James zog sich zurück und richtete sich auf.
Poppy protestierte und versuchte, ihn wieder an sich zu ziehen. Aber er ließ es nicht zu.
»Nein. Es gibt noch etwas, das wir tun müssen«, flüsterte er. Aber er tat gar nichts. Er hielt sie nur in seinen Armen und presste seine Lippen auf ihre Stirn. Poppy fühlte sich friedlich und träge.
»Du hast mir nicht gesagt, dass es so sein würde.«
»Ich wusste es nicht«, antwortete er einfach. »So war es noch nie zuvor.«
Sie blieben ruhig zusammen sitzen und James streichelte zärtlich ihr Haar.
Wie seltsam, dachte Poppy. Alles ist genau wie immer und doch ganz anders. Es kam ihr vor, als hätte sie sich ans trockene Land gerettet, nachdem sie fast im Ozean ertrunken wäre. Das Entsetzen, das den ganzen Tag über in ihr gewütet hatte, war verschwunden, und zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte sie sich vollkommen sicher.
Nach ungefähr einer Minute schüttelte James den Kopf und richtete sich auf.
»Was müssen wir denn noch machen?«, fragte Poppy.
Als Antwort hob er sein Handgelenk an seinen Mund. Er machte eine schnelle Bewegung mit seinem Kopf, als ob er ein Stück Stoff mit den Zähnen abreißen wollte.
Als er das Handgelenk wieder senkte, sah Poppy Blut.
Es lief in einem kleinen Rinnsal seinen Arm hinunter. So rot, dass es fast künstlich wirkte.
Poppy würgte und schüttelte den Kopf.
»Es ist nicht so schlimm«, sagte James leise. »Und du musst es tun. Ohne mein Blut in dir wirst du nicht in einen Vampir verwandelt, wenn du stirbst. Du wirst einfach nur sterben wie jedes andere menschliche Opfer.«
Und ich will leben, dachte Poppy fest. Okay, gut. Sie schloss die Augen und ließ zu, dass James ihren Kopf an sein Handgelenk führte.
Es schmeckte nicht nach Blut, oder jedenfalls nicht nach dem Blut, das sie immer geschmeckt hatte, wenn sie sich auf die Zunge gebissen oder an einem Schnitt
im Finger gelutscht hatte. Es schmeckte - fremd. Kräftig und berauschend.
Wie ein Zaubertrank, dachte Poppy benommen. Und wieder fühlte sie die Berührung seines Verstands. Wie betrunken von dieser Nähe trank sie immer weiter.
So ist es richtig. Du musst viel zu dir nehmen, sagte James, ohne zu sprechen. Seine telepathische Stimme war jetzt schwächer als vorhin. Sofort war Poppy alarmiert.
Aber was passiert dabei mit dir?
»Ich komme schon wieder in Ordnung«, versicherte er ihr laut. »Du bist diejenige, um die wir uns sorgen müssen. Wenn du nicht genug trinkst, schwebst du in Gefahr.«
Nun, er war der Experte. Und Poppy ließ dieses seltsame, kräftige Getränk nur zu gern in sich hineinfließen. Sie sonnte sich in der Wärme, die sie von innen her zu erleuchten schien. Sie fühlte sich so friedlich, so wohl …
Und dann wurde der Friede ohne Vorwarnung zerstört. Eine Stimme durchdrang ihn. Eine Stimme voller Empörung.
»Was, zum Teufel, macht ihr da?«
Poppy schaute hoch und sah Phillip in der Tür stehen.
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