Nightshifted
ihrem Bruder angetreten
hatte, dazu gedient, genau das zu vermeiden?
Sike fuhr fort: »Das zweitälteste Kind wird in den
Tynei ertränkt. Metaphorisch gesprochen. Es hat sich nicht wirklich angefühlt,
als würde man ertrinken.«
Ich konnte ihr nicht in die Augen sehen. »Und ⦠und
wozu dienten dann die Bilder?«
»Um die Verzweiflung zu steigern. Selbst entfernter
Schmerz, der von den Zver hervorgerufen wird, kann von ihnen beansprucht
werden. Stell dir den Schmerz vor wie Wasser, das an einer Höhlenwand
heruntertropft, um dann auf andere Rinnsale seiner Art zu treffen und
schlieÃlich in dem Fluss zu enden, der unter der Höhle verläuft.«
»Und ich dachte immer, Buchmacher und Drogendealer
wären übel«, murmelte ich mehr zu mir selbst.
»O nein. Bei denen geht es nur um Geld. Macht ist
eine ganz andere Sache.« Sie schloss wieder die Augen und schien sich innerlich
darauf vorzubereiten, aufzustehen.
»Sike â warum konntest du Anna nicht einfach dazu
bringen, zu bleiben?«
Sike hielt in der Bewegung inne und sah mich erstaunt
an. »Wie? Du weiÃt es nicht?«
Die Liste der Dinge, die ich momentan nicht wusste,
hätte eine verdammte Bibliothek füllen können. Als Sike meinen Gesichtsausdruck
sah, löste meine Unwissenheit wohl Mitleid in ihr aus.
»Die Zver nennen sie nochnaya . Sie ist das Vampirkind
zweier Tageslichtagenten, ein wahres Kind der Nacht. Sie ist der Grund, warum
sie uns Tageslichtagenten ruhighalten, in der Hoffnung, dass eines Tages einer
von uns, oder besser gesagt eines unserer Kinder, so sein wird wie sie.« Sike
atmete einmal tief durch. »Momentan ist sie noch ein kleines Mädchen. Ein
hungriges, wütendes kleines Mädchen. Doch sie kann wachsen und sich verändern.
Denn im Gegensatz zu dem ganzen Rest von ihnen ist sie wirklich lebendig. Ist
dir das nicht aufgefallen?«
Ich spitzte die Lippen und dachte daran, wie ich in
der Nacht geglaubt hatte, ihren Herzschlag wahrzunehmen. Vielleicht hatte ich
es nicht gewusst â aber ich hatte es gespürt.
»Sie wird ewig leben, solange sie nicht beschlieÃt,
es nicht mehr zu tun«, fuhr Sike fort. »Und wenn sie dann stirbt und nach drei
Tagen wieder aufersteht ⦠dann wird sie für die Vampire gottgleich sein.« Sie
musterte mich herausfordernd. »Man sagt einem Gott nicht, wann er bleiben und
wann er gehen soll. Sie wollte frei sein, also ist sie gegangen.«
Ich glaubte nicht, dass Sike Anna aufgehalten hätte,
nicht einmal, wenn der Thron der Rose es ihr ausdrücklich befohlen hätte. Dazu
waren sich die beiden zu ähnlich. Nun betastete sie neugierig ihre frisch
verbundenen Wunden.
»Sie war so hungrig und das so lange Zeit. Ich habe
Glück, dass sie mich überhaupt am Leben gelassen hat.«
Der Gedanke, dass ich fast in mein Wohnzimmer
gekommen wäre und Sikes Leiche auf meiner Couch entdeckt hätte, war der
Tropfen, der das Fass zum Ãberlaufen brachte. Fast hätte ich sie angebrüllt.
»Du hättest zugelassen, dass sie dich umbringt?«
»Ich wäre für sie gestorben, und das mit Freude.«
Ich schüttelte den Kopf. »Das kannst du nicht ernst
meinen, Sike â¦Â«
Ganz langsam breitete sich ein Lächeln auf ihrem
Gesicht aus. »Ich werde niemals mächtig genug sein, um Rache zu üben für alles,
was geschehen ist. Aber sie wird es eines Tages sein.«
Sie gönnte sich noch einen Moment lang die Freude,
darüber nachzudenken, dann erhob sie sich taumelnd. Sofort sprang ich ebenfalls
auf und streckte eine Hand aus, um sie aufzufangen, falls sie umfiel.
»Ich muss jetzt gehen und mich auf dein Tribunal
vorbereiten«, erklärte sie, während sie ihr zerfetztes Oberteil über ihre
Schultern drapierte, um anschlieÃend ihren Mantel anzuziehen.
Ich schüttelte den Kopf. »Bleib hier.«
»Mir geht es gut.«
»Klar doch.« Und vielleicht war ihr Auto ja auch so
toll, dass es von alleine fuhr. »Du hast eine Menge Blut verloren, Sike. Sie
werden das verstehen.«
Mit einem schmerzerfüllten Zischen schob sie ihren
Arm in den Mantel und richtete ihren Kragen. Erst dann fuhr sie fort: »Mr.
Weatherton hat einen Vertrag unterzeichnet. Alles andere ist jetzt nicht von
Belang.« Vorsichtig ging sie zur Wohnungstür.
»Wird sie kommen?«, rief ich ihr hinterher.
Ihre Hand lag schon auf der Klinke. »Ich würde ja mit
den
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