Nightside 10 - Für eine Handvoll Pfund: Geschichten aus der Nightside Band 10 (German Edition)

irgendwo dort. Ich sah immer tiefer nach unten, und meine Sicht tauchte plötzlich durch die brechend vollen Straßen noch weiter nach unten, zu den Plätzen unterhalb der Nightside. Ich ignorierte die Unterwelt, die unterirdischen Galerien und die Erdw ürmer, während ich einer Spur folgte, die ich spürte, auch wenn ich sie nicht benennen konnte. Meine Sicht führte mich gleich einem Hund auf heißer Spur weiter, und mit einem Mal wusste ich, wo der Sammler sich dieses Mal versteckt hatte.
    Die vielen Tunnel, Bahnsteige und Bahnhöfe des U-Bahnsystems breiteten sich spiralförmig vor mir aus – eine endlose Reihe verzweigter, sich miteinander verbindender Tunnel, die sich durch den Felsuntergrund wanden und bohrten, wobei sie manchmal gefährlich tief eintauchten. Ich sah Reisende auf ihren Bahnsteigen und Züge. Die Züge brausten durch ihre Tunnel, tauchten auf und verschwanden, als sie in außerdimensionale Abkürzungen eintauchten und daraus wieder hervorkamen, um Orte zu erreichen, die keine waren, und dort, wirklich gut im Herzen des Systems versteckt, tief in dem wahnsinnig komplizierten Chaos der alten und neuen Bahnhöfe, war das neue, geheime Versteck des Sammlers.
    Mein erster Hinweis darauf waren solide, magische Schilde, wo eigentlich keine hätten sein sollen. Meine Sicht glitt leicht durch die Verteidigungsmaßnahmen, und plötzlich sah ich Zeichen von Leben, Macht und arkanen Energien, die aus einem geschlossenen Bahnhof, der seit Jahren nicht mehr benutzt wurde, strömten. Es gab sehr viele U-Bahnhöfe, die niemand mehr besuchte, die ersetzt oder aufgegeben, abgeriegelt oder vergessen worden waren, weil sie zu gefährlich oder zu verstörend geworden waren. Genau wie der Sammler, der seine kostbare Sammlung an einem Ort versteckte, an den niemand mehr wollte. Im Grunde hatte er jetzt seinen eigenen, privaten Bahnhof, der nicht mehr auf den Anzeigetafeln stand, an den niemand mehr kommen konnte, weil niemand wusste, wo der Zug anhalten musste.
    Ich glitt durch seine Schilde wieder nach draußen und schoss zurück in die mit Licht übersäte Nacht. Ich stürzte wieder in meinen eigenen Kopf und beendete meine Sicht, während ich vorsichtig meine mentalen Schilde wieder errichtete. Es war in der Nightside niemals ungefährlich, seinen Geist offen zu lassen, man wusste nie, was eindringen konnte. Ich erzählte Larry, wo wir hinmussten, um den Sammler – und wahrscheinlich Tommy – zu finden. Larry nickte. Wir waren auf dem Weg, um seinen lange verschollenen Bruder zu retten und uns einem der gefährlichsten Männer der Nightside in seinem eigenen Versteck von Angesicht zu Angesicht zu stellen, aber es gab keine Spur eines Gefühls in dem Gesicht des toten Mannes oder in seinen kalten, blauen Augen. Er hatte oft genug gesagt, dass die Toten nur Platz für ein einziges Gefühl auf einmal hatten, und er war immer noch auf Rache aus.
    ***
    Wir liefen durch den Regen und betraten wortlos die Cheyne-Walk-Station. Wir bezahlten Charon seinen Preis, kauften unsere Fahrkarten und gingen in die U-Bahn hinunter. Es hatte einmal eine Zeit gegeben, da hatte man mich kostenlos fahren lassen, aber nichts hielt ewig; am allerwenigsten Dankbarkeit in der Nightside. Die Mengen schienen dichter zu sein als sonst, während sie sich durch die vollen Tunnel schoben und drängten, und dabei allem gegenüber – außer den Bedürfnissen und Zwängen, die sie vorantrieben – blind waren. Larry ging voraus, wobei er sich mit seiner rüden Art und seinem gefühllosen Körper einen Weg bahnte, während ich hinterherging und meinen Gedanken nachhing. Die Luft war warm und stickig. Dampf stieg von den nassen Kleidern der Leute auf. Frische Graffitis bedeckten die Wände. Ich wusste nicht, wo die Leute die Energie hernahmen. Oder die Intelligenz. „Walkers Wege sind unergründlich.“ „Lasst sie nicht aus den Spiegeln heraus!“ „Dagon ist zurück, und dieses Mal ist es persönlich.“ Außerdem in einer sehr ordentlichen, gebildeten Handschrift: „Wenn das hier der Realitätskonsens ist, schummeln einige unter uns.“
    Selbst neue T-Shirts wurden dank Harry Fabelhaft, dem ersten Betrüger der Nightside, dem Mittelsmann für illegale Geschäfte und dem Mann, zu dem man für all das ging, was schlecht für einen war, zum Verkauf angeboten. Er hatte am Fuß der Fahrstühle einen Stand aufgestellt und war wie immer damit beschäftigt, überschäumende Scheiße zu erzählen – mit einem großen, fröhlichen Lachen für