Nightside 9 - Wieder einmal Weltenbrand
hatte einfach die Nase gestrichen voll von der Nightside.
Ich naschte mich demonstrativ durch alle Köstlichkeiten, natürlich alles in meiner Funktion als Ermittler und um meinen Horizont zu erweitern. Der Chefkoch des Clubs hatte einen erstaunlichen Ruf. Walker hingegen rührte kein einziges Gericht an. Was ihm überhaupt nicht ähnlich sah. Ich musterte ihn aufmerksam, wie er dort auf der anderen Seite des Raumes stand und gedankenverloren aus dem Fenster blickte. Er hielt sich ein gefaltetes Taschentuch an die Nase, die noch immer nicht zu bluten aufgehört hatte. Das machte mir Sorgen. Der Wanderer hatte nicht so fest zugeschlagen.
Julien kam zu mir herüber, um mir Gesellschaft zu leisten, wobei er mit seinen perfekten viktorianischen Zähnen gigantische Happen von einer Steak-und-Stilton-Pastete abbiss. Er schlug mir freundschaftlicher als sonst auf die Schulter.
„Gut gemacht, John. Ich bin stolz auf Sie. Stellen Sie sich meine Überraschung vor.“
„Gern geschehen“, sagte ich trocken. „Sie vergessen auch nicht, Ihren Namen und Ihre Adresse auf dem Scheck anzugeben?“
„Mich führen Sie nicht hinters Licht. Das Ganze hier haben Sie nicht nur wegen des Geldes getan.“
Ich beschloss, das Thema zu wechseln, und nickte zu Walker hinüber. „Was ist da los? Walker hatte doch immer die Konstitution eines Ochsen und die Sturheit …“
Ein Großteil der guten Laune wich aus Juliens Antlitz. Ich konnte regelrecht zusehen, wie sie sich in Luft auflöste. Er sah zuerst Walker und dann mich an.
„Er hat es Ihnen nicht gesagt?“
„Was?“, fragte ich.
„Es ist noch nicht allgemein bekannt“, erklärte Julien, „und das wird auch eine ganze Weile so bleiben. Bis sich der Staub etwas gelegt hat …“
„Spucken Sie’s aus“, sagte ich. „Ihnen ist doch klar, dass ich solche Dinge wissen muss.“
„Ich bin sicher, er hätte es ihnen selbst erzählt. Irgendwann.“
„Julien!“
„Er stirbt“, sagte Julien.
Es war wie ein Schlag in den Magen. Ich spürte die Kälte tatsächlich in meinem Herzen. Ich schaute zu Walker hinüber, der sich immer noch vorsichtig die Nase mit dem blutbesudelten Taschentuch betupfte. Er sah eigentlich ganz gesund aus. Er konnte nicht sterben. Nicht Walker. Aber es kam mir nicht in den Sinn, an Juliens Worten zu zweifeln. Er hatte sich in solchen Dingen noch nie geirrt.
Ich konnte mir die Nightside ohne Walker nicht vorstellen. Konnte mir ein Leben ohne Walker nicht vorstellen. Solange ich mich erinnern konnte, war er immer dagewesen. Für gewöhnlich im Hintergrund, von wo er die Fäden zog und Menschen wie Figuren auf einem Schachbrett bewegte. Manchmal als mein Feind, manchmal als mein Freund … als ich jung gewesen war und mein Vater alle Hände voll damit zu tun gehabt hatte, sich zu Tode zu saufen, waren es Onkel Henry und Onkel Mark gewesen, die ein Auge auf alles gehabt hatten. Walker und der Sammler. Vielleicht die größte Autoritätsperson und der größte Schurke, die die Nightside je hervorgebracht hatte.
Walker. Der die Nightside am Laufen hielt, soweit es überhaupt möglich war. Ich hatte für und gegen ihn gearbeitet, hatte ihm getrotzt und ihn verteidigt, je nachdem, an welchem Fall ich arbeitete. Er hatte aus seinen ganz eigenen Gründen mein Leben bedroht und gerettet. Es schien mir, dass ich sehr oft mein Leben danach ausrichtete, wie sehr es seines beeinflusste.
Was würde ich tun, wenn er fort war?
„Wie kann er sterben?“, fragte ich. „Er ist … geschützt. Jeder weiß das. Hat ihn doch jemand erwischt?“
„Nein“, entgegnete Julien. „Hier gibt es keinen Verbrecher zu verfolgen und keine Mordtat zu rächen. Es ist kein Voodoofluch, keine außerirdische Waffe und kein längst vergangener Fall, der von den Toten auferstanden ist, um ihm das Leben zur Hölle zu machen. Einfach eine äußerst seltene, schwere Blutkrankheit. Scheint in der Familie zu liegen. Er hat seinen Großvater, seinen Vater und seinen Onkel an sie verloren, so ziemlich im selben Alter, in dem er jetzt ist.“
„Aber … das hier ist die Nightside!“, protestierte ich. „Es muss doch etwas geben, was man tun kann.“
„Er hat vieles versucht“, sagte Julien. „Aber manchmal müssen die Dinge … ihren Lauf nehmen. Ich glaube, es gibt Hoffnung. Wunder geschehen. Aber man sollte sich nicht zu sehr darauf verlassen. Er tut das auch nicht. Wir alle sterben.“
„Aber … wenn er die neuen Autoritäten nicht länger repräsentiert, wer wird es dann
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