Nikotin
gefiel sie mir gar nicht. Sie war so niedergeschlagen, so lustlos. Eine große Gesellschaft würde sie aufheitern, sagte ich mir.«
Mr Satterthwaite nickte zu diesen Ausführungen.
»Erzählen Sie mir ein wenig von dem jungen Manders«, bat er plötzlich. »Er interessiert mich.«
»Nun, er ist wohl ganz gescheit«, sagte Lady Mary z ö gernd. »Natürlich befand er sich in einer heiklen Lage…« Sie errötete abermals, und als sie den fragenden Blick des kleinen Herrn gewahrte, fuhr sie fort: »Sein Vater war mit seiner Mutter nicht verheiratet.«
»Wie? Davon ahnte ich nichts.«
»In Loomouth weiß es jeder; sonst würde ich es selbs t verständlich nicht erwähnt haben. Die alte Mrs Manders, Olivers Großmutter, lebt auf Dunboyne, dem großen Landsitz am Plymouth-Weg. Ihr Gatte war Rechtsanwalt. Der Sohn trat in eine Londoner Firma ein, erwies sich als sehr tüchtig und ist heute ein reicher Mann; die Tochter, ein schönes Mädchen, verlor ihr Herz an einen verheir a teten Mann, den ich wegen seines Verhaltens bitter tadeln muss. Nachdem es einen großen Skandal gegeben hatte, liefen die beiden schließlich auf und davon, weil die Frau des Betreffenden nicht in eine Scheidung einwilligen wol l te. Kurz nach Olivers Geburt starb das Mädchen, und der Onkel in London, der selbst in kinderloser Ehe lebte, nahm sich des mutterlosen Kleinen an. Fortan wohnte er entweder dort oder bei der Großmutter; die Sommerf e rien verbrachte er jedenfalls regelmäßig hier.« Lady Mary rührte ein Weilchen in ihrer Tasse, ehe sie hinzusetzte: »Er hat mir immer leidgetan. Auch jetzt noch. Ich glaube, sein schrecklich eitles Auftreten ist zum größten Teil M a che.«
»Das würde mich nicht wundern. Wenn ich einem Menschen begegne, der sich aufspielt und unaufhörlich rühmt und prahlt, weiß ich immer, dass da irgendein g e heimes Minderwertigkeitsgefühl im Hintergrund stecken muss. Ein Minderwertigkeitskomplex ist etwas Eigenart i ges, Lady Mary. Er ist der Antrieb zu einer Menge von Verbrechen, nur aus dem Wunsch heraus, sich geltend zu machen.«
»Das mutet mich seltsam an«, murmelte Lady Mary ve r zagt. Mr Satterthwaite betrachtete sie beinahe ein wenig sentimental. Er liebte ihre graziöse Gestalt mit den abfa l lenden Schultern, das weiche Braun ihrer Augen, ihr Ve r zichten auf jegliches Make-up. Sie muss eine Schönheit gewesen sein, als sie jung war, dachte er. Keine prunke n de, stolze Schönheit, keine Rose – nein, ein bescheidenes, entzückendes Veilchen, das seine Süße verbirgt…
Seine Gedanken eilten in seine Jugend zurück. Bilder und Geschehnisse wurden lebendig, und plötzlich erzäh l te er Lady Mary von seiner eigenen Liebesgeschichte – von der einzigen Liebe, die er je gehabt hatte.
Er sprach davon, wie hübsch das Mädchen gewesen sei und wie sie in Kew zusammen Glockenblumen gepflückt hätten. An jenem Tag hatte er, der dachte, dass sie seine Gefühle erwiderte, sie um ihre Hand bitten wollen. Und dann, während sie nebeneinanderstanden und auf die Schönheit der blauen Glöckchen hinabschauten, hatte sie sich ihm anvertraut – ihm ihre Liebe zu einem anderen gebeichtet, worauf Mr Satterthwaite sich wehen Herzens mit der Rolle eines treuen Freundes zufriedengeben musste.
Vielleicht war es keine sehr vollblütige Romanze, aber zwischen dem verblichenen Chintz und dem eierschale n dünnen Porzellan von Lady Marys Wohnzimmer klang sie gut.
Hinterher erwähnte Lady Mary ihr nicht besonders glückliches Eheleben.
»Ich war so ein törichtes Mädchen – Mädchen sind meist töricht, Mr Satterthwaite, sie sind so überzeugt, dass sie alles besser wissen. Da wird so viel von dem I n stinkt der Frauen geschrieben und geredet – nun, ich glaube nicht daran. Es scheint keinen Instinkt zu geben, der Mädchen vor einem gewissen Männertyp warnt. G e wiss, die Eltern warnen sie, aber das tut man mit einem Achselzucken ab. Ja, es wirkt sogar fesselnd, wenn man hört, der und der ist ein schlechter Mensch; man bildet sich nämlich sofort ein, Liebe würde den Betreffenden ändern.«
Mr Satterthwaite nickte freundlich.
»Man weiß so wenig. Und wenn man mehr weiß, ist es zu spät«, sagte Lady Mary seufzend. »Ich habe meinen Kummer nur mir selbst zuzuschreiben. Meine Verwan d ten sträubten sich gegen eine Heirat mit Ronald. Er stammte aus gutem Hause, hatte aber einen schlechten Ruf. Mein Vater sagte mir rundheraus, dass er ein Taug e nichts sei, und ich glaubte es nicht. Oder ich glaubte
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