Nikotin
vielmehr, er würde um meinetwillen ein neues Leben beginnen. Wie sehr mein Vater Recht hatte, zeigte sich bald. Es klingt altmodisch, Mr Satterthwaite – doch R o nald brach mir das Herz. Ich lebte in ständiger Furcht… was das Nächste sein würde.«
Sie starrte auf die blumigen Wände, aber sie sah durch sie hindurch in eine weit, weit zurückliegende Verga n genheit. Mr Satterthwaite klirrte leise mit dem Löffel g e gen die Tasse, und das Geräusch holte Lady Mary wieder in die Gegenwart.
»Als er dann an einer Lungenentzündung starb; war es eine Erlösung… Nicht, dass er mir gleichgültig geworden wäre. O nein, ich liebte ihn bis zum Ende; aber ich gab mich keinen Illusionen mehr hin. Und außerdem hatte ich Egg.« Ihre Stimme wurde weich. »Ach, dieses süße, kleine komische Ding! Dick und rund, versuchte sie sich aufzurichten und verlor immer wieder das Gleichgewicht – genau wie ein Ei. Davon rührt auch ihr lächerlicher Spitzname her.« Wieder machte sie eine Pause. »Ich habe in den letzten Jahren eine Menge Bücher gelesen, die mich in gewissem Sinne trösteten. Bücher über Psychol o gie. Sie legen dar, dass in vielen Fällen die Menschen sich nicht bessern können; sie schleppen sozusagen einen a n geborenen Makel mit sich herum. Als Junge stahl Ronald in der Schule Geld – Geld, das er nicht benötigte. Heute erkenne ich, dass er gegen seine eigene Natur machtlos war. Er wurde mit einem Mangel geboren…«
Sachte betupfte sich Lady Mary mit einem Taschentuch die Augen.
»Daheim lehrte man mich zwar, dass jeder den Unte r schied zwischen Recht und Unrecht genau kenne. Aber ich meine, das trifft nicht immer zu, Mr Satterthwaite.«
»Ja, die menschliche Seele ist ein großes Rätsel«, sagte der Gast. »Bis jetzt tappen und tasten wir unseren Weg zum Verständnis. Ohne dass man sie zu den Wahnsinn i gen rechnen kann, gibt es Naturen, denen das fehlt, was ich als bremsende Kraft bezeichnen möchte. Wenn Sie oder ich sagen würden: ›Ich hasse irgendwen – ich wollte, er wäre tot‹, so verschwände dieser Gedanke aus unserem Gedächtnis, sobald die Worte geäußert wären. Autom a tisch treten die Bremsen in Tätigkeit. Doch bei manchen Menschen bleibt der Gedanke oder die Besessenheit ha f ten. Sie sehen nichts als die unmittelbare Befriedigung ihres Wahns.«
»Verzeihung, Mr Satterthwaite – das ist mir zu hoch«, lächelte Lady Mary.
»Oh, ich rede sicher wie ein trockener Bücherwurm!«
»Meinen Sie, dass die Jugend von heute sich zu wenig Zurückhaltung auferlegt? Es bekümmert mich manc h mal.«
»Nein, nein, das meine ich keineswegs. Vermutlich dachten Sie an Miss… hm… Miss Egg?«
»Nennen Sie sie lieber einfach Egg.«
»Danke, Lady Mary. Miss Egg klingt tatsächlich ein bisschen seltsam.«
»Meine Tochter ist ungeheuer impulsiv, Mr Satterthwa i te, und sobald sie sich etwas in den Kopf gesetzt hat, lässt sie sich durch nichts abhalten. Wie ich vorhin schon sa g te, widerstrebt es mir, dass sie sich in diese leidige Ang e legenheit einmischt. Doch ich predige tauben Ohren.«
Mr Satterthwaite lächelte über die Betrübnis, die in L a dy Marys Ton vibrierte. Wird sie sich denn nicht eine Sekunde vergegenwärtigen, dachte er, dass Eggs Beschä f tigung mit Verbrechen nicht mehr und nicht weniger ist als eine neue Variante eines alten, alten Spiels: die Verfo l gung des Mädchens durch das Weibchen? – Nein, diese Vorstellung würde sie entsetzen!
»Das Kind erzählte mir, dass auch Mr Babbington ve r giftet worden sei. Stimmt das, Mr Satterthwaite? Oder ist es nur eine von Eggs gewagten Behauptungen?«
»Gewissheit wird erst die Autopsie der Leiche verscha f fen.«
»Mein Gott, es wird eine Exhumierung stattfinden? – Wie schrecklich für die arme Mrs Babbington! Es ist s i cher das Entsetzlichste, was einer Witwe passieren kann.«
»Sie haben die Pfarrersfamilie ziemlich gut gekannt?«
»Ja. Es sind sehr liebe Freunde von uns.«
»Wissen Sie, ob irgendjemand einen Groll gegen den a l ten Herrn gehegt haben könnte?«
»Nein.«
»Er erwähnte auch niemals etwas Derartiges?«
»Niemals.«
»Und die Ehe war gut?«
»Glücklich in jeder Weise. Die beiden lebten nur für sich und ihre Kinder.«
»Wie stand Oliver Manders mit dem Pfarrer?«
Lady Mary zögerte mit der Antwort.
»Das lässt sich nicht mit einem Wort sagen, Mr Sa t terthwaite. Die Babbingtons hatten wie ich Mitleid mit Oliver, der während der Ferien viel mit den Pfarrerssö h nen spielte,
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