Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nilowsky

Nilowsky

Titel: Nilowsky Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Torsten Schulz
Vom Netzwerk:
Noch bevor ich fragen konnte, was denn Nilowsky angestellt habe, sagte der Vater: »Na gut, dann werden wir dir mal ein paar Takte über den Burschen erzählen.« Er wandte sich an seine Frau. »Willst du?«
    Sie schüttelte knapp und energisch den Kopf. Also begann Carolas Vater: Seitdem Nilowsky in der Wohnung von Carla Serrini wohne, habe er kein einziges Mal gegrüßt. »Sicherlich deshalb, weil wir ihm, als er uns danach fragte, nicht verraten haben, wo die Baumschule von Carola ist.« Nun gut, Höflichkeit könne man nicht von jedem erwarten, nicht mal im Sozialismus, aber was schließlich geschah, sei nicht nur moralisch verwerflich, sondern auch juristisch gesehen ein Tatbestand.
    »Komm zur Sache!«, unterbrach ihn Carolas Mutter, gab sich einen Ruck und berichtete selbst weiter: »Weihnachten. Vormittag. Heiligabend. Nicht später als zehn Uhr. Mein Mann war grad weg, einen Weihnachtsbaum kaufen. Es klingelt. Ich mach auf. Schwuppdiwupp ist Herr Nilowsky an mir vorbei in der Wohnung. ›Na, na, na, junger Mann‹, sag ich noch. Er aber schon ganz dreist: ›Wo ist Carola?‹ Ich: ›Wo sie sonst auch immer ist. In ihrer Baumschule, im Internat.‹ Er: ›Wie? Auch zu Weihnachten?‹ Ich: ›Ja. Auch zu Weihnachten. Das ist eben ihre Art. Auch zu Weihnachten.‹ Und er:›Wo ist die Baumschule?‹ Ich: ›Sie sind der Letzte, dem ich das sagen werde.‹ Da greift er meinen Arm, dreht ihn um. Droht mir, mich umzubringen. ›Wo ist die Baumschule, wo ist die Baumschule, wo ist die Baumschule?!‹ Mein Gott, denk ich, der ist ja verrückt geworden. Ich sag: ›Wenn Sie die Tochter schon nicht kriegen, dann eben die Mutter, nicht wahr? Ist ja auch mehr dran.‹ Da war er aber geplättet. Schubst mich weg und haut ab. Und seitdem haben wir ihn nicht mehr gesehen.«
    »Der Tatbestand«, resümierte Carolas Vater, »beinhaltet Hausfriedensbruch, Körperverletzung und im Grunde genommen auch versuchte Vergewaltigung. Wir haben sofort die Polizei verständigt. Die sucht und wird ihn finden. Und wenn die Polizei auch Sie befragen sollte, werden Sie schon erzählen, was Sie wissen. Das war’s, Herr Bäcker. Und jetzt wollen wir weiter Musik hören.«
    Er wies mir den Weg zur Tür. Ich ging rasch und ohne Auf Wiedersehen zu sagen und war froh, als ich wieder auf der Straße war. Ich schaute mich um, denn ich hielt es für möglich, dass ich von der Polizei beobachtet wurde. Oder von Nilowsky. Ich rannte los. Rannte bis zum Bahndamm, so schnell ich konnte. Der Achteinunddreißiger donnerte vorbei. Mit genau fünf Minuten Verspätung, wie ich auf meiner Armbanduhr sah. Ich hechelte, kotzte fast, völlig außer Atem.
    Plötzlich, wie aus dem Nichts, nahmen mich zwei Arme fest in ihren Griff. Nilowskys Arme. Meinen Oberkörper umklammerten sie, wie Schraubzwingen, ging es mir durch den Kopf, wie Schraubzwingen. Er stand hinter mir, presste sich an mich und sagte: »Ich wusste, dass du herkommst, wusste ich. Hier ist mansicher. Man sieht die Polizei. Wenn die kommen, sieht man sie. Kann man flüchten, bevor sie einen haben. Guter Überblick hier, gut zum Flüchten.«
    Er wusste also offenbar, dass er von der Polizei gesucht wurde. Trotzdem sagte ich, um ihm zu zeigen, wie sehr ich mich sorgte: »Sie suchen nach dir, die Polizei …«
    »Das müssen sie auch«, fiel er mir ins Wort. »Wenn sie eine Anzeige bekommen, müssen sie das; und eine Anzeige, die haben sie bekommen.«
    Er ließ mich los. Ich drehte mich um und sah ihn, wie er kerzengerade vor mir stand, nicht mehr als einen Meter vor mir. Zu seinen Füßen stand ein Koffer aus dunkelbraunem, abgewetztem Leder. Er deutete auf den Koffer und sagte: »Sie suchen mich, aber sie werden mich nicht finden. Ich bin heut da, morgen dort, und nirgendwo werden sie mich finden.« Es klang abenteuerlustig, schadenfroh, dann allerdings bemächtigten sich Wut und Hass seiner Stimme. »Die dachte, ich will sie ficken, die fette Worgitzke, die dachte das. Und die Bullen werden ihr das glauben. Ihr Macker ist ja ein hohes Parteitier, Genosse Worgitzke, da werden sie es ihr glauben, die Bullen. Komm mit!«
    Worgitzke – das klang nicht mehr irgendwie geheimnisvoll, sondern ordinär und gefährlich. Nilowsky nahm seinen Koffer, und ich folgte ihm wieder an den Gleisen entlang. Zum Glück war es nicht mehr so kalt wie vor Weihnachten, und es war auch fast windstill. Nilowsky schaute unablässig nach eventuellen Verfolgern. Es wunderte mich, dass er für den guten Ausblick in Kauf nahm,

Weitere Kostenlose Bücher