Nilowsky
ich begab mich auch immer wieder in die Nähe der rotgelben Baracke, die den Ingwerknoblauchgeruch ausströmte und von älteren Frauen besucht wurde, doch nicht mehr – soviel ich sehen konnte – von meiner Mutter.
Nach nochmals einer Woche stand plötzlich Roberto in der Dunkelheit neben mir. Ich hatte mich zwar hinter einem Baum gut versteckt geglaubt, trotzdem war ich nicht überrascht, als er mich wie aus dem Hinterhalt aufgespürt hatte.
»Deine Mutter nicht mehr kommt«, sagte er traurig.
In meinen Ohren klang dieser Satz wie ein Vorwurf. Aber ich war nicht nur gefasst, ich war sogar vorbereitet. »Vielleicht braucht sie Zeit«, sagte ich. »Oder das Blut braucht Zeit. Zeit zu wirken. Ich weiß nicht. Wir sind ja in Berlin und nicht in Mozambique, vielleicht dauert’s hier länger …«
»Hast du gemacht?«, unterbrach mich Roberto.
Ich sah die Hoffnung in seinem Gesicht und antwortete: »Ja, na klar. Ich hab es gemacht.«
»Sie hat nichts gemerkt von Blut?«
»Nein, überhaupt nichts. Sie hat nachts geschlafen in ihrem Bett. Ich bin zu ihr geschlichen und hab’s gemacht.«
»Und dein Vater? Nicht in dem Bett?«
»Mein Vater, natürlich, er schläft auch in dem Bett. Aber immer mit Abstand. Immer mindestens zwanzig Zentimeter Abstand.«
»Immer zwanzig?«, fragte Roberto.
»Ja«, antwortete ich und gab mich leicht genervt, »zwanzig oder vielleicht auch dreißig.«
»Warum hast du mir nicht berichtet gleich?«, fragte Roberto. »Dass du gemacht hast. Auftrag erfüllt hast, vertrauensvoll.«
Ich hatte nun doch Skrupel. Nicht nur, dass ich unerkannt log, jetzt war ich sogar der vertrauensvolle Auftragserfüller.
»Ach«, sagte ich, »es war ganz leicht. Und warum ich dir nichts gesagt hab? Na, ganz einfach: Ich hab dich nicht gesehen. Und in eure Baracke hab ich mich nicht hineingetraut.«
»Richtig«, meinte Roberto. »Baracke ist Geheimort. Erst wenn ich werde in Liebe mit deine Mutter, machen wir große Essen mit viele Gewürze und große Feier. Und alle kommen. Natürlich auch du. Alle.«
Er grinste, in einer Art, die etwas Schelmisches hatte. Vielleicht, dachte ich, hat er gerade meinen Vater im Sinn, den er auch einladen würde. Alle wären froh und glücklich. Das wäre der Gipfel der Zauberei.
Ich dachte an Nilowsky, dessen Mitwirkung an der Feier so selbstverständlich wäre, dass es gar nicht erwähnt werden musste. »Weißt du eigentlich«, fragte ich, »wo Reiner ist?«
»Nein. Weißt du nicht?«
»Nein, ich dachte, du wüsstest es. Du bist ja sein Freund.«
»Du auch«, erwiderte Roberto. »Wir drei sind Freunde. Gemeinschaft von Freunde. Oder weißt du nicht?«
»Ich weiß«, sagte ich, »ja, ich weiß.« Kaum hatte ich es ausgesprochen, breitete sich ein Gefühl von Geborgenheit in mir aus.
Roberto strich mir über den Rücken und meinte: »Er muss Zeit für sich. Kommt wieder. Bin ich mir sicher.«
Roberto verabschiedete sich mit einer Umarmung von mir und ging in die Baracke. Ich lief nach Hause.
Meine Eltern saßen noch am Abendbrottisch. Sie waren in einen Streit vertieft und bemerkten gar nicht, dass ich die Wohnung betrat.
»Du küsst einen Neger, und ich soll mich nicht aufregen?«, hörte ich meinen Vater sagen. Ich stand im Flur und bewegte mich nicht. »Und ob ich mich aufrege. Ich rege mich so lange auf, wie ich will. Solange und kein bisschen weniger.«
»Du sollst nicht ›Neger‹ sagen«, entgegnete meine Mutter. »Das ist ein Schimpfwort, das will ich nicht hören …«
»Ach, das willst du nicht hören!«, unterbrach sie mein Vater. »Weißt du, was ich nicht will? Ich will nicht, dass du mit irgendwelchen Negern rummachst.«
»Ich habe nicht rumgemacht, ich hab mich nur mal küssen lassen. Ein einziges Mal. Und du sollst nicht ›Neger‹ sagen. Kapierst du das nicht?!«
»Ich kapiere sehr wohl«, sagte mein Vater. »Sehr wohl kapiere ich. Was gefällt dir eigentlich an diesen faulen Säcken? So faul wie die sind, haben die natürlich nur Ficken im Sinn.«
»Ich habe nicht gefickt. Ich habe mich nur mal küssen lassen. Begreifst du noch nicht mal das?«
»Ich habe auch nicht behauptet, dass du gefickt hast. Ich habe gesagt, die haben nur Ficken im Sinn, so faul wie die sind den ganzen lieben Tag lang.«
Wenigstens, dachte ich, sagt er nicht mehr »Neger«. »Deine lieben, netten afrikanischen Staatsbürger«, fuhr er fort, »aus dem Freundesland, dem wir in sozialistischer Solidarität verbunden sind, holen sich die Damen natürlich nur deshalb
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