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Nilowsky

Nilowsky

Titel: Nilowsky Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Torsten Schulz
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aus allen Richtungen gesehen werden zu können.
    »Und die Bullen«, fuhr er fort, »die sind zu Carola, am ersten Weihnachtsfeiertag, in dieses Internat. Nur Carolaund zwei andere Mädchen waren dort, die auch ihre Eltern hassen. Und die Bullen, die dachten, ich sei bei ihnen. Was für ein Blödsinn. Ich meine, schön wäre es gewesen. Wie kann man nur so blöd sein wie die Bullen oder die fette Worgitzke oder ihr Macker? Roberto hat es mir erzählt. Carola ist nämlich zu ihm, hat ihm das gesteckt, und Roberto ist der einzige Mensch, mit dem ich in Verbindung bin, der einzige. Aber mehr verrat ich dir nicht. Und dann hat Roberto ein Treffen organisiert, Carola und ich, nur wir beide. Nicht in der Baracke, natürlich nicht, denn die Bullen hatten auch schon die Baracke durchsucht, auch am ersten Feiertag. Als ob ich dort wäre. Mich ausgerechnet dort verstecke. Was für ein Blödsinn. Haben alles in Unordnung gebracht in der Baracke, die Bullen. Für wie blöd halten die mich denn, die Bullen? Komm mit!«
    Er stakste die Böschung hinunter, die Arme zum Ausbalancieren von sich gestreckt, nach links und rechts, und in der Rechten den Koffer. Sicherlich stammt der von Carla Serrini, dachte ich. Ein altes italienisches Stück. Er schien prall gefüllt, doch an Nilowskys Arm wirkte er leicht wie ein Handtäschchen. Er warf ihn in die Luft, fing ihn auf, legte ihn auf den Grasboden und setzte sich auf ihn.
    »Setz dich neben mich«, bat er und wies auf die Hälfte des Koffers, die er frei gelassen hatte.
    Ich zwängte mich neben ihn, und er begann zu berichten. In einem Ton, der sich so sehr um Sachlichkeit bemühte, wie ich es bei ihm noch nicht erlebt hatte.
    »Am Silvesterabend trafen wir uns. Am Bahndamm, wo sonst? Sie sagte, sie fände es sehr gut, wie ich ihre Mutter attackiert habe. Ich, ermuntert durch das Kompliment,fragte sie, ob ich sie küssen darf. ›Du willst nicht nur küssen, du willst mehr‹, stellte sie fest. Ich antwortete nicht drauf, ging weiter in die Offensive. Sagte: ›Hast du noch das Blut an deinem Oberarm?‹ Sie: ›Welches Blut?‹ Ich: ›Tu doch nicht so. Das Blut, das du nicht abwaschen wolltest.‹ Sie öffnet ihren Mantel. Unterm Mantel das kurzärmlige weiße Kleid mit den roten Punkten. Aber kein Blut am Oberarm. ›Du hast es abgewaschen, das Blut‹, sagte ich. Und sie: ›Wer hat dir denn den Blödsinn vom Blut am Oberarm erzählt?‹ Na, wer wohl?«
    Diese Frage war an mich gerichtet. Aber auf eine Antwort legte Nilowsky gar keinen Wert. »Damit nicht genug«, sagte er. »Du hast Carola erzählt, dass ich es nicht geschafft habe, meinen Vater umzubringen. Wie blöd muss man eigentlich sein, um zu glauben, das kommt nicht raus?«
    Hinter dieser Frage stand der viel schwerer wiegende Vorwurf: Du hast mich verraten! Obwohl du mir geschworen hattest, es nie und nimmer zu tun!
    »Carola hat es mir gesagt, hat sie. Danach hat sie sich erst mies gefühlt, weil sie dich, den Verräter, verraten hat. Dann aber hat sie gemeint: ›Ach, was soll’s. Verräter verraten – ist nichts weiter als ausgleichende Gerechtigkeit.‹ – ›Tschüss, Tschüss, Tschüssikowski‹, hat sie noch gerufen. Und ist davongehüpft, ist sie. Weggehüpft. Zu ihrer Baumschule. Nicht mal Roberto weiß, wo die Baumschule ist.«
    Nilowsky hatte Tränen in den Augen. »Steh auf!«, sagte er. Sachlich, hart, sagte er es, und ich spürte die Spannung in seinem Körper, ein regelrechtes Vibrieren. Ich stand auf. Ohne ein Wort.
    »Geh! Verschwinde!« Er schaute auf seinen Koffer herab. »Geh mir aus den Augen!«
    Das klang endgültig. Nie mehr, dachte ich, nie mehr will er mich sehen. Ich war wie erstarrt. Trotzdem ging ich davon, ohne auch nur ein Wort zu sagen.

25
    Der Umzug war an einem Dienstagvormittag bei Glatteis. Die vier Möbelträger hatten Mühe, sich auf den Beinen zu halten. Ab und zu rutschten sie aus und fielen hin. »Wie kann man denn bei so ’nem Wetter bloß umziehen?«, fluchte einer. Und ein anderer sagte zu meinem Vater: »Ick hoff ja nur, Sie sind jut versichert.«
    »Das sind wir«, erwiderte mein Vater bestens gelaunt, »keine Bange, das sind wir.« Und als kurz darauf die Kleiderkommode aus dem Schlafzimmer meiner Eltern mit ihren beiden Trägern zu Boden fiel und auseinanderbrach, sagte mein Vater nur: »Na, was für ’n Segen, dass wir dafür versichert sind.« Er nahm meine Mutter in den Arm und küsste sie so lange und leidenschaftlich, dass einer der Möbelträger belustigt rief:

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