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Nilowsky

Nilowsky

Titel: Nilowsky Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Torsten Schulz
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öffnete sie langsam und vorsichtig. Ich schaltete das Licht an und lauschte. Nichts war zu hören. Keine Mozambiquaner, keine Frauen. Im Flur standen nur ein Besen und ein Eimer. Ich wäre am liebsten in die Küche und in die Zimmer hineingegangen, aber auch hier hatte ich das Gefühl, eine Grenze, die Nilowsky mir gebot, nicht überschreiten zu dürfen.
    Ich schaltete das Licht aus, schloss die Tür und ging weiter durch den Wald bis zur anderen Seite des Chemiewerks. Von dort war es nicht mehr weit zu Wallys Erdgeschosswohnung. Ich klopfte an die Jalousie, einmal lang, dreimal kurz, als wäre das unser vereinbartes Klopfzeichen.
    »Wer is da?«, hörte ich Wally rufen.
    »Ich«, rief ich zurück. »Markus Bäcker.«
    Wally zog die Jalousie hoch, öffnete das Fenster und sagte: »Reiner hat immer zweemal lang, zweemal kurz, aber nich dass du denkst, ick hätte mit ihm jerechnet.«
    Ich überlegte, ob ich sagen sollte, dass ich mich niemals trauen würde, Nilowskys Klopfzeichen nachzuahmen, entschied mich aber dagegen. Wally deutete mit einer Kopfbewegung in ihre Wohnung. »Na los, mach hinne. Oder worauf warteste?«
    Ich stieg durch das Fenster, und Wally ließ die Jalousie wieder herunter. »Hier is viel passiert, seit ihr wegjezogen seid. Na ja, dit wirste ja wohl mitbekomm’ haben.«
    »Ich hab nichts mitbekommen«, sagte ich.
    Wally schaute mich prüfend an. Dann deutete sie auf ihr Sofa. »Setz dir hin.«
    Ich setzte mich und sah an der Wand gegenüber ein paar Blutspritzer, die vom Fluchtversuch des geköpften Huhns herrührten. Was für ein Quatsch, dieser Voodoo-Zauber, dachte ich, zumindest wenn man nicht in Afrika ist. Im nächsten Moment sagte ich mir, dass ich eigentlich der Letzte bin, der das überhaupt beurteilen kann.
    »Wat hab ick nich allet jemacht für Roberto und seine Jungs«, stellte Wally fest. »Ick denk nur an dit Huhn. Bin extra uff ’t Land jefahren, um ’n lebendiget Huhn zu koofen. Is ja nich grad einfach, ’n lebendiget Huhn überhaupt zu kriegen. Alle fragten: Warum koofen Sie sich nich ’n tiefjefrorenet? Und ick konnt’ ja nich sagen: Is für Wudu, deshalb nich. Tja, und nu? Weg sind sie, Roberto und seine Jungs. Ging janz schnell. Kaum wart ihr weg, du und deine Eltern, waren sie ooch nich mehr da. Versetzt. Wegen Disziplinmangel und unerwünschte Freizeitaktivitäten. Hieß et jedenfalls, offiziell. Und keener weeß, wo sie hin sind.«
    Der Zusammenhang mit meinem Vater, dem ehemaligen Betreuer der Mozambiquaner, war eindeutig. Ich schämte mich dafür.
    »Ach, Junge«, tröstete mich Wally, »mach dir nich verrückt. Du kannst ja nischt dafür. Musst eben warten, biste volljährig bist, und denn nischt wie weg. Wie die Carola. Oder meinste etwa, die is noch in ihrer Baumschule?« Wally ließ sich neben mich aufs Sofa plumpsen und gab sich selbst die Antwort: »Nee, da is sie nich. Kaum is sie achtzehn jeworden vor ’ner Woche, is sie irgendwoanders hin verduftet. Und jetzt willste wissen, woher ick dit weeß, oder?«
    »Ja«, antwortete ich, denn meine Neugierde war mir wohl so deutlich anzusehen, dass es keinen Sinn gehabt hätte, sie zu leugnen.
    »Ick weeß et, vom Reiner weeß ick et.« Wally öffnete ihre streng nach hinten gebundenen Haare und schüttelte sie, wie eine Diva, die damit ihre Attraktivität zeigt. »Er klopfte anne Jalousie – vier Tage isset erst her –, zweemal lang, zweemal kurz. So schnell hab ick dit Ding noch nie hochjezogen, und schwupps war er drin. Und denn sagte er: ›Ich geh weg, weit weg geh ich. Und Carola auch. Aber nicht zusammen, zusammen gehen wir nicht. Aber weit weg, auch Carola. Sie ist ja jetzt achtzehn, ist sie jetzt, und Bäume zum Großziehen und Pflegen, die gibt’s überall, überall auf der Welt gibt’s die. Und niemand wird wissen, wo wir hingehen. Auch du nicht, Wally, du auch nicht. Ist gut für dich, dass du’s nicht weißt. Damit du uns nicht verraten kannst, aus Versehen oder warum auch immer, deshalb ist es für dich gut.‹«
    Wally hielt inne, und ich staunte, wie gut sie Nilowsky wiedergeben konnte. Vielleicht war es sogar wortgetreu.
    »Und denn«, fuhr sie fort, »fing er an mit seiner revolutionären Situation oder wie sich dit schimpft. Lenin hätte jesagt, dass ’ne jesellschaftliche Situation revolutionär is, wenn et für die herrschende Klasse unmöglich is, ihre Herrschaft uffrechtzuerhalten. Weil sich Not und Elend der unterdrückten Klassen verschärfen. Dit hätte Lenin jesagt. ›Und genauso‹,

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