Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nilowsky

Nilowsky

Titel: Nilowsky Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Torsten Schulz
Vom Netzwerk:
wiedersehen. Vielleicht würde mir bei unserer Begegnung etwas einfallen, demzufolge sie sich trotz allem in Reiner verliebte.
    Am Abend unserer Rückkehr sah ich nach dem Pfirsichkern. Er war nicht da. Weder unter der losen Platte noch irgendwo sonst vorm Eingang zum Bahndamm-Eck . Möglich, dass Carola ihn an sich genommen hatte, um mir damit zu sagen, dass sie mich nicht mehr sehen wollte. Oder aber – das schien mir auf einmal logischer – Nilowsky hatte mich beobachtet, als ich den Kern wieder unter die Platte gelegt hatte, und ihn an sich genommen. Auch wenn er die Bedeutung dieses Vorgangs nicht kannte, konnte er davon ausgehen, dass er eine Bedeutung hatte. Er musste nur weiter heimlich den Eingangsbereich beobachten und würde irgendwann, nein, recht bald Carola sehen, wie sie nach dem Kern schaute. Wenn es nicht schon geschehen war.
    Am nächsten Abend ging ich zum Haus, in dem Nilowsky neben Carolas Bonzeneltern wohnte. Die Fenster seiner Wohnung waren dunkel. Ich lauschte an seiner Tür; nichts war zu hören, kein Laut. Nur aus der Bonzenelternwohnung kam Musik, ein Volkslied, nicht irgendeines, sondern »Am Brunnen vor dem Tore«. Hört sich ja an, dachte ich, wie ein Willkommensgruß. Oder – unwahrscheinlich zwar, aber nicht ausgeschlossen – Reiner war in der Wohnung und gedachte gemeinsam mit Carolas Eltern seiner Großmutter.
    Ich warf einen Blick auf das Klingelschild. Worgitzke. Der Name las sich, als hätte er irgendeine geheimnisvolle Bedeutung. Dass ich das so empfand, hing sicherlich nur mit meiner Aufregung zusammen. Ich fasste mir ein Herz und klingelte. Sekunden später wurde der Türspion betätigt. Sofort stolperte ich zwei Schritte zurück. Ein Türspion, dachte ich, ist ganz bestimmt Pflicht für höhere Parteifunktionäre.
    Ein Mann mit einem länglichen sommersprossigen Gesicht und einer Vollglatze öffnete die Tür. Ich schätzte ihn auf über fünfzig. Er trug einen dunkelgrauen Anzug, mit dem Abzeichen der Sozialistischen Einheitspartei am Revers, im Volksmund »Bonbon« genannt. Noch nie hatte ich einen Menschen gesehen, der in seiner eigenen Wohnung mit einem Anzug herumlief. Obendrein mit Bonbon. »Na, du kommst uns genau richtig«, sagte er. »Komm mal gleich rein.«
    Erstaunt wie ich war, folgte ich dem Mann ins Wohnzimmer, in dem sich eine dickliche Frau mit langen hellroten Haaren aus einem Sessel erhob. Sie trug eine weit aufgeknöpfte Bluse und Hot Pants. Immerhin einer der wenigen englischen Begriffe, die ich kannte.
    »Wir hatten zwar grad was Besseres vor«, sagte die Frau, »aber wenn du schon da bist, setz dich mal hin.«
    Sie knöpfte sich die Bluse zu und deutete auf den Sessel. Wenn ich mich da reinsetze, dachte ich, bin ich in der Falle. Aber ich war ja sowieso in der Falle. Carolas Vater, von dem ich mir vorstellte, dass er auch beim Sex seinen Anzug trägt, stand dicht hinter mir und fragte wie ein Verhörfachmann, der gerade noch einen kumpelhaften Ton hinkriegt: »Na, wo steckt er?«
    »Wer denn?«, nuschelte ich, obwohl ich mir denken konnte, wer gemeint war. Und Carolas Mutter sagte: »Vom Sohn des Genossen Bäcker hätten wir uns ein bisschen mehr kooperative Zusammenarbeit gewünscht.«
    Kooperative Zusammenarbeit – das doppelte sich. Bestimmt wollte sie damit die Wichtigkeit ihres Anliegens unterstreichen. »Meinen Sie Reiner Nilowsky?«, fragte ich, um mein Gesicht zu wahren, aber auch nicht als begriffsstutzig dazustehen.
    Der Glatzkopf schob mich in den Sessel und sagte: »Wir wissen, dass du mit ihm befreundet bist. Du warst sogar bei der Beisetzung seines Vaters und seiner Großmutter. Wir haben Carla Serrini sehr gemocht – eine ehrenvolle italienische Kommunistin –, deshalb hören wir auch manchmal die Volkslieder, die sie ausgesprochen geliebt hat. Deutsches Kulturgut, das im Sozialismus würdevoll fortlebt.«
    »Ja«, sagte ich und schämte mich für meine geheuchelte Zustimmung. Außerdem bezweifelte ich, allein weil dieser Bonzenvater es behauptete, dass Carla Serrini Kommunistin gewesen war. Jedenfalls war sie wohl kaum eine Bonzenkommunistin gewesen.
    Carolas Mutter schaltete den Plattenspieler aus. Auf einmal war es sehr still. Beängstigend still. Ich hörte mein Herz klopfen, und ich bildete mir ein, Carolas Eltern hörten es ebenfalls.
    »Carla Serrini«, fuhr Carolas Vater fort, »würde sich im Grabe umdrehen, wenn sie wüsste, was für ein Verbrecher ihr Enkel ist. Also, wo ist er?«
    »Ich weiß es nicht«, beteuerte ich.

Weitere Kostenlose Bücher