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Nilowsky

Nilowsky

Titel: Nilowsky Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Torsten Schulz
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»Halbzeit, Spucke wechseln«, woraufhin sich meine Eltern noch inniger küssten.
    Mir war das peinlich. Andererseits fühlte ich so etwas wie Respekt: Alle Achtung, dass es ihnen immer wieder gelang, wie ein frisch verliebtes Paar zu sein. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass ich das jemals so gut hinkriegen würde mit einer Frau. Beispielsweise mit Carola. Ich schämte mich für diesen Gedanken, denn er beinhaltete, dass nicht Nilowsky, sondern ich mit Carola zusammenkommen müsste. Das Beste wäre, sagte ich mir, wenn ich sie mehr und mehr vergessen würde. Undnicht nur Carola, auch Nilowsky. Irgendwann würden beide in meinem Leben nur noch eine kleine Episode sein. Aber auch dieser Gedanke bereitete mir Unbehagen. Ich konnte doch nicht jetzt schon festlegen, was in meinem Leben von Bedeutung sein würde und was nicht. Plötzlich hielt ich es durchaus für möglich, dass Reiner mich von irgendwoher heimlich beobachtete. Er hatte, wie ich ihn mir vorstellte, etwas Abfälliges im Blick. Als wollte er mir damit sagen: Wie unverschämt, dass du mich vergessen willst. Ich schaute mich um. Sah nur einen der Säufer aus dem Bahndamm-Eck , der durch die Unterführung Richtung Chemiewerk ging. Ich lief zurück in die Wohnung, die schon fast leergeräumt war. Hier konnte Reiner mich nicht sehen. Die Möbelträger transportierten die letzten Stücke hinaus, und mein Vater rief: »Wo bleibst du denn? Jetzt geht’s zurück, zurück ins alte Leben.«
    Was für ein blöder Spruch, dachte ich, ging hinunter zum Möbelwagen, stieg auf die Ladefläche und hörte meine Mutter sagen: »Gerade du müsstest dich eigentlich freuen, dass wir hier wieder wegziehen.«
    Statt eine Antwort zu geben, schloss ich die Plane über der Ladefläche, sodass ich nichts mehr von draußen sehen konnte, nichts mehr vom Chemiewerk und den grünlich gelben Wolken, nichts mehr vom Bahndamm und auch nichts mehr von dem Haus, in dem ich fast fünf Monate gewohnt hatte.
    Als wir in Pankow eintrafen, in einer ruhigen Straße am Schlosspark, öffnete mein Vater die Plane und fragte mit seiner unerschütterlichen guten Laune: »Na, bist du noch da?«
    »Nein«, antwortete ich, stieg von der Ladefläche, bogin die nächste Querstraße und ging, ohne mich umzusehen, immer weiter.
    Erst am späten Abend kehrte ich zu dem Haus zurück, in dem ich nun wohnen sollte. Ich klingelte an der Wohnungstür, meine Mutter öffnete, umarmte mich und sagte nichts. Mein Vater kam aus dem Wohnzimmer und sagte: »Entschuldige bitte, wir haben unterschätzt … dass du … Wir haben uns nicht richtig verhalten … Dafür wollen wir uns entschuldigen … Vielleicht, nein ganz sicher haben wir dir zuviel zugemutet … Das hätten wir sehen müssen …«
    So sehr mich seine gute Laune genervt hatte, so wenig konnte ich jetzt mit diesem Entschuldigungsgerede anfangen. Ich war froh, dass mich meine Mutter in mein Zimmer führte und dort allein ließ.

26
    In meiner alten Schulklasse begegnete man mir, als hätte ich nur eine etwas längere Reise hinter mir und wäre wieder glücklich daheim. Man fragte, was ich erlebt habe, aber man erwartete nicht, dass etwas Außergewöhnliches dabei war. Ich erzählte nichts von Nilowsky, Carola, den Mozambiquanern oder den alten Frauen. Sie waren wie ein Schatz, dessen Kostbarkeit gerade darin besteht, dass niemand etwas über ihn erfährt. Ein Schatz jedoch, den ich eigentlich gar nicht verdiente. Zumindest so lange nicht, bis es mir gelänge, Reiner und Carola trotz allem zusammenzubringen.
    An einem frühlingshaften Märzabend fuhr ich mit der S-Bahn in meine Bahndammgegend. Das Bahndamm-Eck war inzwischen wieder geöffnet. Ich schaute durchs Kneipenfenster und sah einen etwa vierzigjährigen, sehr kräftigen Mann mit Igelhaarschnitt hinterm Tresen stehen und Biere zapfen, während die Skatspieler und andere Trinker wie ehedem an den Sprelacarttischen saßen. Einen Moment lang dachte ich daran, hineinzugehen und nach Nilowsky zu fragen. Aber ich wagte es nicht. Ich würde – so empfand ich es – eine Grenze übertreten, die ich ohne Reiner nicht übertreten durfte.
    Ich ging durch das Waldstück zur rotgelben Baracke. Wie gewohnt verbarg ich mich hinter einem Baum,etwa dreißig Meter von der Eingangstür entfernt. Die Baracke war dunkel, kein Laut drang aus ihr heraus. Nur der Ingwerknoblauchgeruch hing in der Luft, wie etwas, das vergessen worden war oder sich geweigert hatte, mitgenommen zu werden. Ich schlich zur Eingangstür und

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