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Nilowsky

Nilowsky

Titel: Nilowsky Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Torsten Schulz
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nirgendwo anders als in einem Kosmetiksalon ihre Tage verbrachte. Nein, Martina trauerte ich nicht nach. Allerdings dachte ich, während ich die Musik hörte, an die vielen Platten, die ich mir kaufen könnte, wenn ich im Westen leben und dort Geld verdienen würde. Es war das erste Mal, dass ich daran dachte, im Westen zu leben. Genaugenommen wusste ich aber, dass es mir eigentlich nicht um den Westen ging, sondern einfach darum, irgendwo anders zu sein. Und sei es nur für ein paar Wochen. Obwohl ich doch, vor nicht länger als einem Monat, fernab von Berlin bei der Armee gewesen war.
    Am späten Nachmittag kam meine Mutter nach Hause und legte mir einen Brief auf den Schreibtisch. »Für dich«, sagte sie nur, bemüht, jeglichen Unterton zu vermeiden. In ihrem Blick jedoch sah ich Sorge. Auf dem Briefumschlag stand Für Markus . Es war Carolas Schrift, die vermutlich auch meine Mutter erkannt hatte. Ich machte die Musik nicht leiser und öffnete den Brief.
    Lieber Markus,
    ich muss nicht so hässlich bleiben, wie ich gerade bin. Ich muss nur mehr essen, mehr schlafen und nicht mehr so viel rauchen. Ich sollte auch wieder arbeiten gehen. Nicht zu Hause sitzen wie ein Mauerblümchen, sondern in frischer Luft die Pflanzen in Parks und Gärten hegen und pflegen. Wenn ich das alles tue, erblühe ich vielleicht wie eine Blume. Für Dich würde ich gern erblühen. Und Du könntest Dir aussuchen, ob meine roten Haare abstehen wie die Blütenblätter einer Gerbera, oder ob ich für Dich den schönen Lockenkopf einer Pfingstrose haben soll oder aber die sachliche Schönheit einer Tulpe oder die Grazie einer Lilie. Vielleicht auch die Quirligkeit einer etwas fusseligen Nelke oder die Zartheit himmelblauer Vergissmeinnicht. Ja, das könntest Du Dir aussuchen. Oder ich wäre im Frühjahr die Gerbera, im Sommer die Rose, im Herbst die Tulpe, im Winter die Lilie. Oh ja, das würde mich mit Freude erfüllen. Ach, ich möchte Dich sehen. Nein, ich möchte Dich nicht sehen. Ich pflücke Blütenblätter ab: möchte, möchte nicht, möchte, möchte nicht … Immer wieder pflücke ich.
    Deine Carola.
    Ich las den Brief dreimal, viermal. Legte ihn in die Schreibtischschublade. Zwischen Schulbücher und Hefte. Der schönste Brief, den ich bislang in meinem Leben bekommen hatte. Der erste Liebesbrief. Ich muss nicht so hässlich bleiben … Für Dich würde ich gern erblühen … Nichts Geschriebenes hatte mich jemals so angerührt. Ich machte die Musik aus und hatte Lust, Carola zu antworten, dass sie alle Blumen der Welt fürmich sein soll, zu allen Jahreszeiten, immer. Auch wenn mir dieser Vergleich kitschig vorkam, nichts anderes wollte ich ihr schreiben. Andererseits fürchtete ich mich vor den Folgen. Ich beschloss zu warten. Eine Entscheidung heranreifen zu lassen. Und hoffte, dass Carola sich bei mir melden würde.
    Zwei Wochen vergingen, drei Wochen. Kein Lebenszeichen von ihr. Dieses sehnsuchtsvolle Warten war kaum mehr zu ertragen. Ich begann es zu verabscheuen. Und mich dafür, dass ich nichts dagegen tat. Kurzentschlossen fuhr ich in den Thüringer Wald. Ich traf mich mit Freunden aus der Armeezeit, ging mit ihnen in Kneipen und auf Partys. Eines Morgens erwachte ich neben einer kräftigen, blondierten Kellnerin, mit der ich am Vorabend nach Ausschankschluss eine Flasche Wodka geleert hatte. Die Kellnerin schlief tief genug, dass sie nicht bemerkte, wie ich aus ihrem Bett stieg, mich anzog und aus der Wohnung verschwand. Ich überlegte, wie ich überhaupt in ihr Bett gekommen war. Ich konnte mich nicht erinnern. Offensichtlich war es das nun gewesen, mein erstes Mal, und dass ich mich nicht erinnern konnte, beschämte mich. Ich versuchte, es zu vergessen, aber das gelang mir nicht.
    Umso mehr dachte ich wieder an Carola. Es kam mir albern vor, doch bei jeder Blume, die ich sah, fragte ich mich, wie Carola ihr Aussehen gestalten würde, um dieser Blume zu entsprechen. Ich wollte sie sehen. Ich hoffte, einen Brief von ihr vorzufinden. Nach achtzehn Tagen Thüringer Wald fuhr ich zurück nach Berlin.
    Auf meinem Schreibtisch fand ich keinen Brief von ihr, dafür einen von Nilowsky. Ich erkannte sofort seine Schrift: Für Markus Bäcker . Der Text ohne Anrede.
    Tun sich Dinge in mir. Müssen uns sprechen. Bald. Sehr bald. Meld Dich! Egal wie.
    Dieser Telegrammstil, wie in alten Zeiten. Und so knapp und heftig, dass für mich außer Frage stand, dass ich mich bei ihm melden würde. Ich überlegte nur, wie. Ich zerriss den Brief,

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