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Nilowsky

Nilowsky

Titel: Nilowsky Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Torsten Schulz
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spülte ihn im Klo runter. Am späten Abend fuhr ich zum Antonplatz und verbarg mich hinter der Straßenlaterne, hinter der ich schon einmal gewartet hatte.
    Ich wartete keine Dreiviertelstunde, da kam Nilowsky die Klement-Gottwald-Allee herunter. Meine Hände begannen zu zittern. Um mich zu beruhigen, ballte ich sie zu Fäusten. Öffnete sie wieder. Atmete tief durch. Trat hinter der Laterne hervor und ging auf ihn zu. Kaum dass er mich sah, blieb er stehen und breitete die Arme aus, wie man es für ein Kind tut, das sich mit größtem Vertrauen auffangen lassen möchte. Diese Geste verunsicherte mich nur noch mehr. Ich zwang mich zu einem Lächeln. »Hallo«, rief ich und hob die Hand dabei, um einer Umarmung vorzubeugen.
    »Hallo, alter Halunke«, rief Nilowsky zurück. »Wird Zeit, dass du dich mal blicken lässt.«
    Er trug wieder Jeans und Jackett, sein dickliches Gesicht war gerötet.
    »Ich war verreist«, sagte ich. »Thüringer Wald. Bisschen mehr als zwei Wochen.«
    Sofort ärgerte ich mich über den Ton, der nach Rechtfertigung klang, ja fast nach Entschuldigung, und bemühte mich, einen lässigen, unbeschwerten Eindruck zu machen.
    »Ich verreise auch«, sagte Nilowsky und schlug mirmit der flachen Hand auf die Schulter. »Jede Nacht. In meine Traumwelt. Aber es ist nicht schön, dorthin zu reisen. Ist es nicht. Deshalb geh ich nicht gern schlafen, verstehst du? Oder sauf so viel, dass ich traumlos schlafen kann. Kann ich aber meistens nicht. So viel ich auch sauf, kann ich nicht. Komm mit!«
    Er stank nach Bier und Schnaps, doch er wirkte auch diesmal überhaupt nicht betrunken. Wir gingen die Klement-Gottwald-Allee hinunter, Richtung Prenzlauer Berg. Eine Straßenbahn fuhr an uns vorbei; Nilowsky schaute kurz auf und sagte: »Diese Bahn beinhaltet vierzehn Personen. Neun Männer, den Fahrer mitgerechnet, drei Frauen und zwei Kinder im Alter von drei und sieben Jahren, die natürlich längst in ihren Betten sein müssten. Ich werde morgen gleich die Fürsorge benachrichtigen, damit die Eltern der Kinder zur Rechenschaft gezogen werden. So etwas ist doch keine sozialistische Erziehung. Ist es doch nicht, oder?« Er lachte und stieß mir seinen Ellenbogen in die Rippen. »Hättest du mir fast geglaubt, was? Na, jedenfalls schön wär es, wenn ich das draufhätte. Könnt’ ich als Hellseher oder Wahrsager arbeiten. Hellseher im Sozialismus, das wär was.«
    Bis zur Altersangabe der Kinder hatte ich ihm tatsächlich geglaubt. Ich hatte sogar der Bahn hinterher geschaut, aber keinen Fahrgast mehr sehen können.
    »Manchmal träum ich«, fuhr Nilowsky fort, »dass sie mich nachts abholen. Mal Kripo, mal Staatssicherheit. In jedem Fall mehrere Männer, und immer ist irgendwie der Alte dabei, stocknüchtern und stumm, immer dabei. ›Wir wissen, dass du Hellseher bist‹, sagt einer von ihnen. ›Also verrat uns: Wird der Sozialismus siegen, und wann wird er siegen? Verrat uns das!‹ Ich darauf:›Wir haben ja gar keinen Sozialismus. Ihr behauptet nur, dass wir einen haben, ihr Lügner. Das heißt, wenn wir keinen haben, kann er auch nicht siegen, niemals kann er siegen. Ist doch logisch, oder?‹ – ›Gut‹, sagt einer von denen, ›wenn es so ist, müssen wir dich hinrichten. Selbst wenn du recht hast. Wir haben gar keine andere Wahl. Das ist nämlich unsere revolutionäre Tradition. Das haben wir schon ewig so gemacht, deshalb müssen wir das immer wieder tun. Logisch, oder?‹ – ›Großartig‹, sage ich. ›Richtet mich hin. Ermordet mich, und das nicht zu knapp.‹ Kaum hab ich’s gesagt, wach ich auf. Scheiße, denk ich, war mal ’n interessanter Traum, war das, und dann so was, einfach wach werden. Koitus interruptus, wenn du verstehst, was ich meine. Willst du eigentlich gar nicht wissen, wo wir hingehen?«
    »Kommt drauf an«, antwortete ich, bemüht, einen selbstbewussten Ton anzuschlagen. »Mich interessiert, warum du mir geschrieben hast. ›Tun sich Dinge in mir. Müssen uns sprechen.‹ Was meinst du damit?«
    »Ich weiß, was ich dir geschrieben hab«, entgegnete Nilowsky gereizt. Er lächelte, wie um den gereizten Ton sogleich ungeschehen zu machen. »Ich weiß selbst nicht, wo wir hingehen. Wir lassen uns einfach treiben. Der Weg ist das Ziel. Kennst du nicht das Sprichwort? Der Leitspruch der Sozialdemokraten. Niemals Kommunismus, nur der Weg dorthin ist wichtig. Deshalb hassten die Kommunisten die Sozialdemokraten. So sehr hassten sie die, dass sie sich mit den Nazis verbündeten.

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