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Nilowsky

Nilowsky

Titel: Nilowsky
Autoren: Torsten Schulz
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Carola nicht an. Schließlich fragte ich beim Gartenamt, ob eine Landschaftsgärtnerin namens Carola Nilowsky oder Serrini, vormals Worgitzke, bekannt sei. Carola, erfuhr ich, arbeite schon seit einiger Zeit nicht mehr, sie sei, soviel man wisse, Hausfrau geworden. Ich fragte mich, was Carola bewogen haben könnte, ihren Beruf aufzugeben. Ob Nilowsky es vielleichtgefordert hatte? Weil er als Kellner genug Geld für zwei verdiente oder sogar für eine Familie?
    Dass Nilowsky durch das Zurückhalten seines Spermas oder allein durch diese Idee schlichtweg verrückt geworden war, hielt ich immer mehr für denkbar. Und dass er den Indern oder zumindest einem Teil von ihnen unterstellte, Verehrer des Hakenkreuzes zu sein, ging mir als mögliches Anzeichen beginnenden Irrsinns auch nicht aus dem Kopf.
    Ich überlegte, wen ich nach der Beziehung der Inder zum Hakenkreuz fragen könnte. Ich versprach mir nicht viel davon, meine Eltern zu fragen, doch da mir sonst niemand einfiel, tat ich es dennoch.
    Wir saßen am Abendbrottisch, und meine Mutter war zwar ebenso überrascht wie mein Vater, worüber ich mir so Gedanken machte, antwortete aber ruhig und klar: »Nein, die Inder sind keine Verehrer der Nazis. Bei ihnen ist es ein Glückssymbol, ein altes Sonnenzeichen, ein Zeichen des Lebens und der Wiedergeburt. Die Nazis haben das Symbol für sich vereinnahmt.«
    Wenn meine Mutter recht hatte, und davon ging ich aus, dann bestand Nilowskys Irrsinn also darin, dass er die Wahrheit einfach verbogen hatte. Denkbar, dass er außer den Indern inzwischen auch die Nazis bewunderte.
    »Woher hast du dieses Wissen?«, fragte mein Vater meine Mutter überrascht und angetan zugleich.
    Meine Mutter lächelte ihn herausfordernd an. »Du weißt eben nicht, was ich alles weiß.«
    Sie kostete sein Erstaunen aus und noch mehr, wie mir schien, seine Neugierde. »Na, was ist? Willst du mich nicht bitten, eine tiefdunkle Ecke meiner Persönlichkeit zu beleuchten?«
    Sie genoss das leicht Kokette ihrer Frage, und mein Vater freute sich daran, dass sie das genoss.
    »Wenn sie tiefdunkel ist«, sagte er, »flehe ich dich geradezu an, sie zu beleuchten.«
    Meine Mutter erzählte, dass sie sich im Alter von fünfzehn Jahren ein Buch über die Geschichte, Kultur und Religion Indiens aus der Bibliothek ausgeliehen und Seite für Seite dieses Buches fast auswendig gelernt hatte. Dass sie davon träumte, nach Bombay, Delhi oder Kalkutta zu reisen, aber nie jemandem von diesem Traum erzählt hatte. Vielleicht wäre es ihr irgendwann gelungen, nach Indien reisen zu dürfen. Über Jugendtourist , mit Führungszeugnis von der Arbeitsstelle. Aber sie wollte nicht. Sie hatte sich Indien inzwischen doch lieber in der Phantasie aufheben wollen.
    »Das war’s«, sagte meine Mutter lapidar, und mein Vater darauf: »Wenigstens mir hättest du ja dein Geheimnis verraten können.«
    »Habe ich doch eben. Und nicht nur dir.« Meine Mutter lächelte mich an, und in diesem Moment überlegte ich, sie zu fragen, ob in dem Buch über Indien auch etwas über Tantra oder Karma gestanden hatte, und wenn ja, ob man sich zu der Frage geäußert habe, wie lange es denn möglich sei, Sperma zurückzuhalten, ob das etwa über Jahre hinaus ginge.
    Während ich noch überlegte, nahm mein Vater die Hand meiner Mutter, knetete sie zärtlich und sagte: »Na, du bist mir ja eine, du kleine Geheimnisvolle.«
    Sein schmalziger Ton war mir peinlich. Zugleich bewunderte ich die beiden einmal mehr dafür, wie sie immer wieder so gut miteinander umgehen konnten. Ich war weniger denn je in der Lage, mir vorzustellen, dassmir das mit einem anderen Menschen jemals gelingen würde.
    Nilowsky, dachte ich später, in der Nacht, als ich nicht schlafen konnte, inzwischen ein Nazianhänger, der seine Ehefrau dazu zwang, nicht mehr dem geliebten Beruf nachzugehen, sondern Hausfrau zu sein. Diese Möglichkeit ließ mir keine Ruhe. Ich musste Kontakt zu Carola aufnehmen. Ich musste herausfinden, ob und wie ihr zu helfen sei.
    Am nächsten Vormittag – ich konnte vor Müdigkeit kaum die Augen offen halten – klingelte es an der Wohnungstür. Ich öffnete, und Carola stand vor mir. Wie gerufen. Sie trug eine graue ausgebeulte Trainingshose und ein weiß-rot kariertes Hemd, das ihr ein paar Nummern zu groß war und über die Hose hing. Sie wirkte darin, als käme sie gerade von der Arbeit; Gartenhandwerk oder Pflanzenpflege, dachte ich.
    »War grad in der Gegend«, flüsterte sie. »Kann ich reinkommen?«
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