Nimmermehr
hinüber. »Es waren zahlreiche Gäste geladen, und die meisten von ihnen hatten sich auch eingefunden. Der hartherzige Graf von Braunsberg führte seine Braut mit finsterer Miene in den Saal hinein, um dann in ihrer und aller Gäste Gegenwart über die Mitgift und die Erbschaft zu verhandeln.«
»Was nicht nett war?«
»Keineswegs!« Greta ging unruhig auf und ab. »Als er seine Verlobte schlussendlich küssen wollte, verweigerte sie sich ihm, so groß war ihr Abscheu vor diesem Mann. Offen trat der Jähzorn des Grafen hervor. Aufs Schmählichste beschimpfte er Agnes und warf ihr am Ende sogar einen Handschuh ins Gesicht.«
Der Gedanke, dass all dies wirklich in diesen Mauern geschehen war, wirkte seltsam befremdlich.
»Die Verwandten der Braut griffen zu den Waffen, doch Agnes vermied das Blutvergießen durch geschicktes und beherztes Zureden. Der Braunsberger verließ mitsamt seinem Gefolge die Burg.«
»Einfach so?«
»Nein. Sie kündigten eine Fehde an.«
»Es war also noch nicht vorbei?«
»Es verging ein Jahr, und nichts war geschehen. Doch dann, eines Tages, ließ der Braunsberger mit einer List die Metzen-gersteins aus der Burg locken. Des Nachts drangen er und seine Mannen dann hier ein.« Mit ausgestrecktem Arm deutete sie zum Tor hinüber, das nach draußen führte. Burg Metzengerstein war wohl niemals eine Befestigung gewesen, die zu Zwecken des Kampfes erbaut worden war.
Ich betrachtete den Boden zu meinen Füßen, wurde aber keiner Fußabdrücke im Schnee gewahr.
Vielleicht, so dachte ich, hatte ich mich wirklich geirrt, und die Träume und die Müdigkeit hatten mir einen Streich gespielt.
»Hörst du mir noch zu?«
Ich fühlte mich ertappt. »Aber ja«, antwortete ich schnell.
Und Greta fuhr mit ihrer Erzählstimme fort: »Lautes Waffengeklirr und übelstes Getöse in dem engen Burghof weckten Agnes aus dem Schlaf. Sie trat ans Fenster.« Greta deutete zum Haus Rodendorf hinauf. »Von dort oben hatte sie wohl gesehen, wie eine Handvoll zurückgebliebener Knechte der Metzengersteins gegen die Übermacht der Braunsberger Gefolgsleute ankämpfte.«
»Was hat sie getan?«
»Sie wusste, dass der erzürnte Braunsberger sie verschleppen würde. Also ging sie in die Waffenkammer und legte sich den prachtvollsten Brustpanzer ihres Bruders an. Bewaffnet mit einem Schwert, schloss sie sich dann der kleinen Schar der Verteidiger an.« Ich versuchte mir vorzustellen, wie vor so langer Zeit an dem Ort, an dem ich nun stand, ein Blutbad stattgefunden hatte. »Der Mut der jungen Frau spornte die Männer von Metzengerstein an.«
»Konnten sie die Braunsberger vertreiben?«
Irgendwie hatte ich geahnt, dass die Geschichte nicht gut enden würde.
»Agnes wurde tödlich von einem Pfeil getroffen und sank zu Boden.« Greta blieb dicht neben mir stehen. »Genau hier, wo deine Fußabdrücke zu erkennen sind und wo du angeblich heute Nacht die Gestalt gesehen hast. Als die Männer von Metzengerstein diese Schandtat sahen, übermannte sie unbändiger Zorn, und sie erschlugen zuerst den Braunsberger und dann alle seine Gefolgsleute.«
»Ein trauriges Ende«, stellte ich fest.
»Damit war die Fehde beendet«, beschloss Greta ihre Erzählung. »Großmutter behauptet jedoch, dass man den Geist der armen Agnes noch oft um Mitternacht durch den Burghof streifen sieht.«
»Und du glaubst, dass es die arme Agnes war, die ich heute Nacht dort drüben gesehen habe?«
Sie lachte auf. »Nein, Jonathan. Ich glaube, dass du die Geschichte in dem Büchlein gelesen und dann davon geträumt hast.« Mit einem verschmitzten Lächeln fügte sie hinzu: »Warum ich in dem Traum vorkomme, kann ich allerdings nicht sagen.« Und bevor ich antworten konnte, fragte sie: »Gehen wir durch den Wald? Es gibt einen Wanderweg, der um Burg Karfunkelstein herumführt.« Spontan ergriff sie meine Hand und zog mich mit sich. »Bei der Gelegenheit zeige ich dir noch den Ort, den meine Großmutter ins Leben gerufen hat.«
So erfuhr ich von dem Tierfriedhof.
»Welche Geschichte hast du zu erzählen, Jonathan?« Ihr Mund schien keine Sekunde still zu stehen.
»Keine«, murmelte ich.
»Komm schon«, drängte sie mich. »Jeder hat eine Geschichte zu erzählen.«
Ich schwieg und trottete neben ihr den Waldweg entlang.
»Du hast traurige Augen«, bemerkte sie. Einfach so.
»Findest du?«
»Würde ich es sonst sagen?«
Der Schnee knirschte unter unseren Schritten.
»Du sprichst meinen Namen oft aus«, sagte ich nach einer Weile.
»Ja,
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