Nimmermehr
Bekanntschaft. Ich begegnete Leonore zum ersten Mal im Charnas, einem alten Buchladen am Leicester Square.
Ich war auf der Suche nach einer alten Ausgabe von Le-Fanu’s »Carmilla«, als ich Leonore bemerkte. Sie stand zwischen den engen Regalreihen und hielt ein aufgeschlagenes Buch in den Händen. Sie trug einen langen schwarzen Mantel altmodischen Stils, dessen Saum fast bis zum Boden reichte. Ihr pechschwarzes Haar, durchsetzt mit roten Strähnen, lugte unter der Krempe eines ebenfalls schwarzen Hutes hervor und fiel, zu einem langen Zopf gebunden, über den hochgeschlagenen Kragen ihres Mantels. Sie wirkte wie ein Schatten in der muffigen, nach altem vergilbten Papier riechenden Buchhandlung. Ich stöberte in dem Regal vor mir herum, ließ meine Finger neugierig über die brüchigen Buchrücken gleiten und warf der jungen Frau verstohlene Blicke zu. Ihr Gesicht blieb mir verborgen. Etwas seltsam Mysteriöses ging von ihr aus. Sie stand fast regungslos da und starrte auf das Buch in ihren Händen, in welchem sie, wie ich mit der Zeit bemerkte, nicht einmal blätterte. Ich erhaschte einen kurzen Blick auf ihre Hand, auf lange geschmeidige Finger, die das Buch fast zärtlich zu berühren schienen. Doch außer dieser unmerklichen Bewegung verharrte sie in stiller Reglosigkeit.
An diesem Tag gab es nicht viele Kunden in dem Laden. Die hölzernen, bis hinauf zur Decke reichenden Regale und die dürftige, matte Beleuchtung erweckten den Eindruck, man befände sich in einer Höhle, irgendwo tief unter der Erde. Die überaus engen Gänge wirkten labyrinthisch, als bewege man sich durch einen Irrgarten aus Geschichten und Gedanken, der sich bis in den Keller des Hauses erstreckte. Die Stille wurde nur unterbrochen von behutsamen Schritten auf den löchrigen Dielen und dem stetig gegen die milchigen Fenster prasselnden Regen. Wenn überhaupt, wurde nur leise gesprochen. Es gab nie laute Worte in dem Laden, bloß dahingehauchtes Flüstern, das sich mit dem Geräusch in Büchern blätternder Finger zu einem Bild voller staubiger Farben vermischte. Kaufte jemand ein Buch, so erklang das trockene Klingeln der rostigen Registrierkasse, die neben dem Eingang auf einem massiven Schreibtisch stand und von einem bärtigen, nach Tabak riechenden Mann bedient wurde.
Für kurze Zeit bildete ich mir ein, leises Seufzen oder Schluchzen zu vernehmen, das Geräusch von jemandem, der verzweifelt versucht, kein Geräusch zu machen. Jedoch währte dieser Eindruck nur kurz und ich stellte erneut fest, dass sich meine Unbekannte keineswegs von der Stelle gerührt hatte. Noch immer stand sie regungslos da und war in ihr Buch vertieft.
Als hätte sie meine Aufmerksamkeit gespürt, drehte sie plötzlich den Kopf und sah mich an. Ich fühlte mich ertappt und war gleichsam gefesselt von ihren Augen, deren helles Blau von Tränen getrübt war. Es war ein von dezenter Blässe gezeichnetes Gesicht, in welches ich blickte, mit hohen Wangenknochen, einer spitzen Nase und schmalen zusammengepressten, ungeschminkten Lippen. Ein aristokratisches Gesicht, das eine altmodische Eleganz sein Eigen nennen durfte. Ich erwartete, dass sie etwas sagte, mich darauf hinwies, dass es sich nicht ziemte, sie heimlich zu beobachten. Stattdessen senkte sie den Kopf, gerade so weit, dass der Schatten, den die Hutkrempe warf, ihre Augen bedeckte, ohne jedoch verbergen zu können, dass ihr Gesicht tränenüberströmt war.
Ich fühlte mich genötigt, etwas zu sagen, und blieb stumm, starrte sie nur an. Noch immer hielt sie das Buch fest in ihren Händen. Der Einband ließ nur noch vermuten, dass er einmal aus elegantem, dunklem Leder gefertigt worden war. Die Seiten wirkten brüchig, an den Rändern zerfleddert und rissig und braungelb schimmernd.
»Ist alles in Ordnung?«, hörte ich mich schließlich fragen. Es war nur ein Flüstern, unsicher und besorgt.
Sie schwieg. Sah mich an. Sie wirkte zerbrechlich. Und jünger, als ich sie zu Anfang eingeschätzt hatte. Dann hob sie den Blick, ihre Augen tauchten erneut aus dem Schatten auf, und als das matte Licht sie erfasste, schimmerten sie für einen Sekundenbruchteil in einem klaren hellen Grün. Sie fixierte mich, klappte mit einer schnellen Handbewegung ihr Buch zu und hielt es fest gegen die Brust gedrückt, als wolle sie es vor mir schützen.
»Good Lady Ducayne«, nannte sie mir den Titel des Buches. »Ich habe es gelesen, als ich klein war.«
Wir standen da und schwiegen uns an, während das Prasseln des Regens
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