Nimmermehr
leben sollen. Das Weihnachtsfest steht vor der Tür, und die Menschen eilen durch die Nacht ihren Häusern entgegen.
Ich stehe am Fenster und betrachte die Silhouette der Stadt. Leonore tritt von hinten an mich heran, legt ihre Arme um mich. Die grazilen Hände ertasten mein Gesicht. Ich drehe mich um und sehe meine Gefährtin an. Die blauen Augen, die manchmal in einem so matten Grün glänzen.
Später, vor dem Einschlafen, nehme ich sie in den Arm und küsse ihre Nasenspitze. Meine Hand liegt auf ihrem Bauch, und manchmal spüre ich dort bereits das neue Leben. Dann erfülle ich ihr den Wunsch, der von Beginn an da gewesen ist. Leise flüsternd erzähle ich ihr eine Geschichte. Und selbst wenn ich spüre, dass sie bereits eingeschlafen ist, rede ich weiter.
Jede Nacht.
Nur für sie.
Rauchzeichen
(eine gewissermaßen indianische Geistergeschichte)
Es gibt viele Legenden. Die Krieger vom Stamme der Algokin erzählten sich an den Feuern Geschichten von Geistern. Die guten Geister lebten im Rauch der Pfeifen. Die bösen Geister lebten überall So war es früher gewesen. Doch die Zeiten ändern sich.
Amelia Guttmundsdottier, Feministin und Nichtraucherin, saß an jenem denkwürdigen Tag an ihrem Stammtisch im »Chez Paul«, dem wohl delikatesten Nobelrestaurant der 5 th Avenue, vertilgte geistesabwesend eine Portion norditalienischer Nouvelle Cuisine und beobachtete so unauffällig wie nur möglich den korpulenten Mann im schwarzgrauen Armani, der am Nebentisch genüsslich im Tagesmenü (gegrillten Crevetten in einer Marinade aus Schalotten, Weißwein und Waldpilzen) herumstocherte: ihr Opfer.
Der Mann war Philip E. Norris, seines Zeichens multimillionenschwerer Zigaretten-Tycoon, ein Dorn im Auge eines jeden Nichtrauchers, ein Verführer der Massen, ein Feind der Gesundheit, ein qualmendes Geschwür der Gesellschaft.
So jedenfalls sah es Amelia Guttmundsdottier.
So sah es ihr Freund.
Und ihre Gleichgesinnten.
Beim Gedanken an das Schicksal des Mannes, der keine fünf Schritte von ihr entfernt ahnungslos dinierte, lächelte Amelia still in sich hinein.
Ja, er war ihr Opfer.
Seit Wochen schon folgte sie ihm. Sie war sein Schatten. Glooskap, ihr Freund, hatte ihr das Anschleichen und unauffällige Beschatten beigebracht. Glooskap lebte in Brooklyn und gehörte dem Stamm der Algokin an. Er trug Bluejeans, mochte Johnny Cash und Willi Nelson und sammelte Vinyls von Marianne Faithful.
»Wir werden ihn fangen, wie man früher den unvorsichtigen Biber gefangen hat«, hatte Faithful (denn so nannte Amelia ihn insgeheim) gesagt und nie einen Zweifel daran gelassen, dass ihr Plan gelingen würde. »Wir müssen es tun, denn sonst bringt er Unheil über die Welt.«
»Du glaubst wirklich, dass es funktioniert?«
Stoisch hatte er genickt und die Arme dabei über der Brust gekreuzt.
Amelia vertraute ihrem Freund.
Deswegen war sie jetzt hier.
Stück um Stück hatten sie den großen Coup geplant.
»Sie«, das waren Amelia Guttmundsdottier, Faithful – und die Angehörigen, Mitverschwörer, Kreuzritter und Gleichgesinnten. Einen glorreichen Namen trug ihre Verbindung: sie waren die »Volksfront für ein raucherfreies Amerika«.
Ja, sie würden diesen dicken Mann bekehren, erretten, ihn wieder auf den rechten Weg zurückführen.
Angewidert verfolgte Amelia, wie sich Philip E. Norris eine phallusartige Zigarre in den Mund schob, sie entzündete und genüsslich daran zu saugen begann, sich im Sessel zurücklehnte und obszöne Rauchkringel in die Luft blies.
Wie abstoßend dieser Mann doch war. Faithful hatte ihr erklärt, dass der Rauch einmal voller guter Geister gewesen war. Die Pflanzen und die ganze Welt hatten durch den Rauch zu jenen gesprochen, die ihn eingeatmet hatten. Doch dann war der weiße Mann gekommen, hatte sich das Land zu eigen gemacht und mit dem Land auch den Rauch.
»Heute leben nur noch böse Geister in dem Rauch«, hatte Faithful gesagt. Und Faithful musste es wissen, denn Faithful wusste solche Dinge. Er war Algokin, da biss die Maus keinen Faden ab.
»Es ist das Schlechte im Menschen«, hatte Amelia geantwortet, »das der Rauch zum Leben erweckt.«
Faithful hatte genickt.
Wie recht er doch hatte!
Ein Schauer lief Amelia über den Rücken, als sie den Tycoon beobachtete. Es war widerlich, was er da tat, trotzte jedem guten Geschmack. Wie ein gestrandeter Wal lag er in dem Sessel und lutschte an dem braunen glimmenden Teil.
Sie wendete den Blick ab, ließ den Ober kommen und
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