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Nimmermehr

Nimmermehr

Titel: Nimmermehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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geschehen?«
    Wortlos betrachtete sie mich.
    »Du zitterst«, bemerkte ich.
    Sie hielt etwas in den Händen, das auf den ersten Blick einem Kugelschreiber ähnlich war, doch als sie die Verschlusskappe abdrehte, erkannte ich, dass es eine scharfe Klinge war. Immer noch wortlos, schlitzte sie sich damit das Handgelenk auf. Ihr blasses Gesicht verzog sich kurz. Dann sah sie mich offen an und sagte mit fester Stimme: »Ich habe mich in dich verliebt, Richard.« Tränen liefen ihr über das Gesicht, als ich wie benommen ihre Hand ergriff und an meine Lippen führte. »Ich habe so etwas noch nie getan«, hörte ich sie sagen, als ich ihr Blut schmeckte. Ich spürte ihre Finger in meinem Haar.
    »Es ist deine Entscheidung.«
    Sie hielt mir den Arm hin.
    »Bitte, bleib bei mir.«
    »Du bist einer von ihnen?«
    »Eine Sukkubus, ja. Irgendwie schon.« Sie überlegte. »Es ist komplizierter, aber …«
    Mich an ihrem Arm festklammernd, trank ich von ihrem Blut, und nie war ich Leonore näher gewesen als in diesem Augenblick. Ich spürte, dass es auch für sie schmerzhaft war. Dass es sie Kraft kostete, mich zu nähren. »Du wirst bald wieder völlig gesund sein«, versprach sie mir.
    Als es vorbei war, lagen wir uns erschöpft in den Armen. Ich küsste sie, und als sich unsere Zungen berührten, fragte ich mich, was sie wohl beim Geschmack des eigenen Blutes empfand. Ganz fest drückte ich den warmen Körper an mich. Spürte ihn atmen. Leonore weinte.
    »Was ist los?«
    »Ich bin eine Sukkubus«, gestand sie mir. »Ich bin so geboren worden.«
    Ich schwieg.
    »Ich liebe dich, Richard.«
    Wir sahen einander an.
    »Manchmal passieren einem solche Sachen.«
    Sie lächelte still.
    »Ja, manchmal passieren Dinge einfach«, flüsterte sie hilflos.
    Ich zog sie zu mir und hielt sie fest.
    Was mir eine bessere Antwort zu sein schien als alle Worte dieser Welt.
    Den nächsten Tag verbrachten wir gemeinsam. Die Wintersonne tauchte die Stadt in ein unwirkliches mattgoldenes Licht. Im Morgengrauen hatte es endlich aufgehört zu schneien. Eng umschlungen betraten wir das Charnas. Den Ort, an dem alles begonnen hatte.
    Wie damals, so gab es auch an diesem Tag nicht viele Kunden, die sich zwischen den hölzernen, bis zur hohen Decke hinaufreichenden Regalen tummelten, um nach den kleinen Schätzen alter Buchdruckerkunst zu stöbern. Es wurden keine lauten Worte im Laden gewechselt. Das Flüstern vermischte sich mit dem Geräusch in Büchern blätternder Finger. Durch die milchig schmutzigen Fensterscheiben drangen die goldenen Sonnenstrahlen, die in der Luft umhertanzende Staubteilchen sichtbar machten.
    Als wir den Laden betraten, grüßte uns der bärtige Ladenbesitzer, der fett hinter der rostigen alten Kasse hockte und über die Ränder seiner Brille hinweg die Kundschaft beäugte.
    »Eigentlich«, sagte sie, »wollen wir doch alle nur jemanden an unserer Seite haben, der uns vor dem Einschlafen eine Geschichte erzählt.«
    »Du bist wunderbar.«
    Wir gingen dorthin, wo ich Leonore zum ersten Mal bemerkt hatte: zu dem Regal mit den Büchern von Dickens, LeFanu und Braddon. Heimlich kramte sie aus ihrer Manteltasche jenes Buch hervor, das für sie von so großer Bedeutung gewesen war. Ehrfürchtig berührte sie das einstmals elegante und nunmehr brüchig wirkende, dunkle Leder. Dann stellte sie es ins Regal zurück.
    Als sie mich ansah, lächelte sie zaghaft.
    »Das brauche ich jetzt nicht mehr.«
    Ich nahm sie bei der Hand und führte sie in die benachbarte Regalreihe. Dort, in der Nähe des Fensters, zog ich einen Einband aus rotem Leder aus dem Regal, blies den Staub vom Buch und zeigte meiner Gefährtin den gut erhaltenen Roman, den ich ihr zum Geschenk zu machen gedachte.
    »Du bist Leonore«, sagte ich, als wir das Antiquariat verließen und in den gleißenden Sonnenschein hinaustraten.
    Sie umarmte mich freudig.
    Das in braunes Papier eingewickelte Buch, das ich ihr gekauft hatte, hielt sie eng an ihren Körper gepresst, als wir vom Leicester Square in Richtung Regent’s Park hinaufspazierten. Es war Daphne Du Mauriers »Rebecca«. Leonore wusste, warum.
    Es endet in meiner Wohnung in Bermondsey. Draußen ist es kalt, und am Nachmittag hat es wieder zu schneien begonnen. Eine vergilbte Zeitung weht durch die enge Gasse. Die Schlagzeilen beschäftigen sich noch immer mit den Todesfällen in Whitechapel und Kensington. Zeugen, denen niemand Glauben schenkt, berichten von seltsam durchsichtigen Gespenstermenschen, die in der U-Bahn

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