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Nimmermehr

Nimmermehr

Titel: Nimmermehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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Alltags zu schaffen, doch besaß er die Kraft, sie zu meistern. Er war glücklich.
    Darum beneidete ich ihn von ganzem Herzen.
    Und ich dachte mir, dass auch er das wusste. Denn auf seine bodenständige direkte Art versuchte er, mir etwas von diesem Glück abzugeben. Es waren nicht nur der Kaffee und die Dartsspiele und die langen Gespräche. Es war das Gefühl, dass sich jemand für mein Leben interessierte. Er nahm Anteil an meinem Leben.
    Dafür dankte ich ihm.
    Und deswegen hätte ich nie unehrlich ihm gegenüber sein können.
    Als der Barkeeper mit einem Gast zu unserer Linken ein Gespräch begann, in dem sich die beiden über die Mordserie in der Stadt ausließen, schlug ich vor zu gehen. Es war nicht weit bis zur nächsten Station.
    Wir gingen langsam die Treppe zur U-Bahn hinunter. Die Luft wirkte abgestanden, und schwüle Winde bliesen uns aus den tiefer gelegenen Schächten entgegen, wenn einer der Züge die Station erreichte oder verließ. Außer uns beiden war kein Passant zu sehen. Es war schon spät, und ich war froh, nicht allein auf den Zug warten zu müssen.
    »Ich liebe Leonore«, gestand ich Miles.
    Er sah mich resigniert an. »Dafür kennst du sie nicht gut genug.«
    Der Klang unserer Schritte hallte in den langen röhrenförmigen Gängen wider. Es roch nach Urin und Abfällen, und die ausgefransten Plakate an den gekachelten Wänden wirkten wenig einladend.
    »Ich habe mich in sie verliebt«, verbesserte ich mich.
    »Ja, klar«, sagte Miles mit einem schiefen Grinsen. »Das ist immer so bei dir. Seit ich dich kenne.«
    Wir betraten den Bahnsteig, und gerade wollte ich etwas erwidern, als die Kreatur, die wie ein Tier war und doch durchsichtig, meinen Freund ansprang und ihm ins Gesicht biss. Aus der Ferne hörten wir das Rattern des nahenden Zuges. Trockene Luft umwehte uns. Ein langgezogenes Heulen aus vielen Kehlen erfüllte plötzlich das Tunnelsystem.
    Das Wesen mochte einmal ein Mensch gewesen sein. Doch jetzt sah es aus wie ein Mensch, der zu einem Tier geworden war, das langsam durchsichtig wurde. Es wirkte wie eine Geistererscheinung. Ein Paar geröteter wilder Augen blitzte mich boshaft an.
    Instinktiv trat ich einen Schritt zur Seite.
    Die Kreatur stieß ein markerschütterndes Heulen aus. Das Wesen hatte Miles die Nase abgebissen, und ich erkannte die Verwirrung in den Augen meines Freundes, dessen rechte Hand fest auf die Wunde gepresst war, während die linke versuchte, die Kreatur auf Abstand zu halten. Was ihr nicht gelang. Noch bevor ich richtig verstand, was dort passierte, sprang ihn das Wesen erneut an und riss ihn zu Boden.
    Eine weiteres fast durchsichtiges Geschöpf trat aus dem Dunkel der Tunnelöffnung und sprang mit einem Satz auf den Bahnsteig. Es heulte wie gefangener Wind und kam auf mich zu. Es sah aus, als schwebe es über den Boden.
    Der erste Angreifer hockte auf dem Körper meines Freundes und biss sich mit durchsichtigen Zähnen in dessen Kehle fest. Schwarzes Blut bedeckte den Bahnsteig. Die hellen Geisterfinger der Kreatur bohrten sich langsam in die Augen des armen Miles, dessen Schreie abrupt verebbten. Sein Körper sackte leblos in den Armen der Kreatur zusammen.
    Wie gelähmt stand ich da und wurde mir des zweiten Angreifers bewusst.
    Die Lautsprecheransage kündigte den nahenden Zug Richtung Earl’s Court an.
    Beim Geräusch der körperlosen Stimme hielt die auf mich zustürmende Kreatur inne und lauschte, während die andere vom Körper meines Freundes zu fressen begann, indem sie wahllos Stücke blutigen Fleisches aus dem Leichnam riss und gierig hinunterschlang.
    Bevor die zweite Kreatur sich mir erneut zuwenden konnte, kam Hilfe in Form des einfahrenden Zuges. Mit Erleichterung erkannte ich eine Vielzahl von Mitfahrenden in Abendkleidung. Womöglich hatte im West End eine Premiere stattgefunden. Nach einigen vergnüglichen Stunden im Theater und dem anschließenden Besuch in einem der noblen Restaurants und den Kneipen in der Shaftesbury Avenue kehrten die Leute nun mit guter Laune und vom Alkohol beschwingt nach Hause zurück. Ich würde Schutz in der Menschenmenge finden. Ich war gerettet.
    Schnell jedoch wichen meine Hoffnungsschimmer bei dem Anblick des Meeres geisterhafter Leiber, das sich aus den beiden Tunnelöffnungen ergoss. Es war nicht einmal zu erkennen, wie viele der durchsichtigen Geisterwesen es sein mochten. Sie sprangen schwebend auf den Bahnsteig und auf das Dach des nun zum Stehen gekommenen Zuges. Im hellen Licht der Waggons

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