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Nimmermehr

Nimmermehr

Titel: Nimmermehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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auf. »Es riecht nach Gebäck«, stellte er fest, und Falten zerfurchten seine Stirn. »Nach Zimt und Zucker und heißem Wein.«
    Dann zerriss ein lautes Knurren die Stille. Marten und Freja schauten in die Dunkelheit jenseits der Lagerhalle. Rot glühende Augen funkelten sie an. »Das ist es«, sagte Marten. Schützend stellte er sich vor sein Weib. Es war so weit.
23.
    Das Scheusal näherte sich ihnen. Noch furchtbarer sah es jetzt aus. Das Kräftemessen hatte seine Spuren hinterlassen.
    »Wer bist du?«, fragte Marten erneut.
    Auch Freja war zum Kampf bereit.
    Die Kreatur gab keine Antwort.
    Dann fiel ein Schatten auf Marten und Freja. Ein Schatten, den ein mächtiges Wesen warf. Eine riesige Gestalt, die unbemerkt hinter ihnen aufgetaucht war. »Dies«, donnerte eine gewaltige Stimme, die Himmel und Erde erbeben ließ, »ist mein getreuer Diener.«
    Marten und Freja drehte sich um. Und sahen dem Herrn des Scheusals in die großen Augen.
24.
    »Rudolf«, sagte die donnernde Stimme.
    Marten ließ den Baseballschläger sinken.
    Die riesenhafte Gestalt eines Kriegers ragte vor ihnen auf. Ein stolzer Bart zierte das ernste Gesicht. »Ihr habt gewagt, euch mir zu widersetzen«, donnerte die Stimme. »Ihr habt Rudolf übel mitgespielt.« Des Scheusals rot glühende Augen troffen vor Wut. »Das hättet ihr nicht tun sollen.«
    Marten fragte sich, was er diesem Riesen entgegenzusetzen hatte. Ihm fiel nichts ein.
    »Wer seid ihr?« Es war Freja, die fragte.
    »Ich bin ein Verfluchter«, sagte der Riese. »Einst war ich Thor, doch dann brachte mich das Gift eines Ewigen zu Fall. Haddon Sundblom war der Name der verschlagenen Schlange, die man auch Midgard nannte. Ja, es war die Midgardschlange, die mich zu einem Leben wie diesem verdammte.« Er hielt einen riesigen Hammer in der mächtigen Pranke. Sein rotes Gewand leuchtete im fahlen Licht der Neonröhren. »Jetzt bin ich derjenige, der Ragnarök zum Leben erweckt.« Er grinste, und der Irrsinn tanzte in den uralten Augen. »Das Ende der Welt«, grollte er. »Die Menschen werden übereinander herfallen wie die Tiere.« Er deutete zu all den Regalen. »Meine Waffen«, sagte er, »entstammen den tiefsten Tiefen der alten Welt. Neid, Missgunst, Habgier.« Er lachte. »Es gibt kein Entrinnen, es hat bereits begonnen.«
    Marten dachte an die Geschichten, die er gehört hatte. An die Städte, in denen weiß gekleidete Sirenen mit Flügeln Lieder sangen. In denen die Menschen in die Kaufhäuser strömten, wo man sie bereitwillig empfing und ihnen mitgab, was abzuholen sie freien Willens gekommen waren.
    »All die Menschen, die verschwunden sind …«
    Thor musterte Freja. »Sie tragen Ragnarök in die Welt hinaus.«
    Rudolf näherte sich dem Donnergott.
    Marten schwieg.
    »Die Welt, wie ihr sie kanntet, wird vernichtet werden.«
    »Das könnt ihr nicht tun.«
    Thor, der Donnergott, streichelte Rudolf, die Rentierkreatur. »Ich habe es bereits getan.«
    Freja standen Tränen in den Augen. »Das dürft ihr nicht tun.«
    Thor, der in seiner eigenen Hölle lebte, lachte nur. So schallend, dass die Regale erbebten. »Fröhliches Ragnarök, meine Kinder!«
    Marten hob den Baseballschläger.
    Er war ein Held. Er würde kämpfen. So durfte es nicht enden. Nach einem letzten Blick auf Freja warf er sich dem Riesen im roten Wams entgegen. Das Knurren des Rentiers war mit einem Mal ganz nah. Freja schrie. Ein riesiger Hammer fuhr auf ihn hernieder, und das letzte Geräusch, das Marten, der Held, vernahm, war ein Donnern, das sich anhörte wie das Ende der Welt: »Ho! Ho! Ho!«

Briefe vom Abgrund
    Liebste Julee,
    endlich, nach all den kummervollen Tagen, in denen ich immer mehr zum Spielball meiner zwiespältigen Gefühle geworden bin und nach einem Ausweg aus diesem Dilemma suchte, habe ich nun den Mut gefunden, mich auf den Weg zu machen. Mein Zug hat vor einer halben Stunde Inverness verlassen, und wenn die Fahrt planmäßig verläuft (laut British Rail benötigt die altmodische Dampflokomotive, die den ganzen Sommer über auf dieser Strecke eingesetzt wird, etwas mehr als eine Stunde, um die Entfernung zwischen Nordsee und Atlantik zu überbrücken), dann werde ich das Küstenstädtchen Kyle of Lochalsh noch vor dem Mittag erreichen.
    Ich sitze in einem verlassenen Abteil, das nach kaltem Tabak und roten Plüschsitzen riecht, und lasse mich vom monotonen Rattern des Zuges tragen. Draußen, vor dem schmutzigen Fenster, das so regentropfenbesprenkelt ist, dass man glauben könnte, der Zug

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