Nimmermehr
feil, die es in den Abfällen gefunden hatte. Gar traurig stimmte es das Mädchen zu sehen, wie manche Menschen die Geschichten behandelten, die ihnen anvertraut worden waren. Denn nichts Geringeres waren Bücher doch. Sie waren Geschichten, deren sich jemand angenommen hatte. Und jene, die Bücher verstießen, besaßen meist kalte Herzen, die niemals mehr Wärme würden empfinden können. Des Mädchens Großmutter hatte es gewusst. Eine Bibliothek hatte die alte Frau besessen, damals vor den Aufständen, als der Zar noch in der Stadt gelebt hatte. Doch das war nun vorbei, wie vieles andere auch. Die Bibliothek war den Flammen zum Opfer gefallen, und Großmutter hatte vor Gram die Augen geschlossen, noch bevor die nächste Silvesternacht auch nur genaht war. Vater war von wütenden Männern in abgetragenen Uniformen abgeholt worden, und Mutter war eines Tages nicht mehr von der Arbeit in der Fabrik zurückgekehrt.
Seit jenen Tagen irrte das Mädchen durch die Stadt. Es lebte von dem, was die Straßen ihm gaben, und bangte jede Nacht darum, einen Unterschlupf zu finden, der ihm Schutz vor der Kälte bot. Die Bücher, die es fand, tauschte es gegen Münzen oder Essen ein, und jedes Mal, wenn es eines der Bücher fortgab, da glaubte das Mädchen eben jenen Schmerz zu spüren, der seiner Großmutter den Lebensmut geraubt hatte. Heute jedoch hatte dem Mädchen niemand ein Buch abgekauft, denn die Menschen wollten feiern und nicht lesen in der Silvesternacht. Bitterster Hunger nagte an des Mädchens Körper, der ganz schwach und dünn war und kaum mehr mit dem Winter zu kämpfen vermochte.
Ja, es war die Silvesternacht, und hinter den Fenstern feierten die Menschen. Das Mädchen hörte Musik und Lachen und erinnerte sich an das Leben von einst. In einer schmalen Gasse fand das Mädchen eine Zuflucht, inmitten eines Schutthaufens, wo Bretter zu einer Art Verschlag aufgetürmt worden waren. Dort hockte die Kleine und betrachtete die Schneeflocken, die dicker wurden, je tiefer die Nacht in die Gasse hineinfloss. Neuen Wind und immer mehr Eis brachte das Jahresende, und bald schon bot der Verschlag keinen Schutz mehr vor der bissigen Winternacht.
In seiner Verzweiflung griff das Mädchen schließlich zu den Schwefelhölzern, die es besaß, und einem zerfledderten Buch, das einst jemandem gehört hatte, der sich in den Geschichten darin verloren hatte. Schweren Herzens zündete das Mädchen das Buch an und wärmte sich an den zögerlich im Wind züngelnden Flammen, die Buchstaben fraßen und Seiten sich krümmen und schließlich zu Asche zerfallen ließen. Und als die Flammen das Buch verzehrt hatten und die Eiseskälte erneut heranschlich, da zündete das Mädchen ein weiteres Buch an. Viele der Geschichten, die da von den Flammen verzehrt wurden, kannte das Mädchen, und viele, die kannte es nicht. So weinte das Mädchen, denn es wusste, dass jene Geschichten niemals mehr wiedergeboren werden würden. In den zuckenden Flammen sah das Mädchen die Bilder vergangener Tage, Menschen, Orte, längst entschwunden. Bittere Tränen rannen dem Mädchen über das Gesicht. Denn noch vor Schlag Mitternacht waren alle Bücher und Geschichten in den Flammen gestorben.
Nur ein einziges Buch war noch übrig. Das Mädchen hielt dieses letzte Buch in den Händen, als sei es ein Schatz, so voller Geschichten und Erinnerungen, dass niemand seinen Wert würde bemessen können. Es war das Buch mit den Wintermärchen, aus dem die Großmutter dem Mädchen immer vorgelesen und das die alte Frau aus den Flammen der Bibliothek gerettet und ihrer Enkelin zum Geschenk gemacht hatte. Niemals würde sie dieses Buch verbrennen. Nein! Eher wollte sie kläglich erfrieren. Ja, so dachte das Mädchen.
Doch dann stürmte neuer Schnee in die Gasse, und schärfere Kälte biss dem Mädchen in die Haut. Die letzte Zuversicht des Mädchens gefror zu Eistränen, und am Ende entzündeten die steifen blauen Finger das allerletzte Schwefelholz, und der winzigen Flamme, die geboren wurde, bot das Mädchen das Einzige an, was es noch besaß.
Das Buch der Großmutter.
Und mit jeder Seite, die das Mädchen aus dem Buch herausriss, bot es den Flammen einen Teil seines Herzens an. Mit jeder Seite, die sich in der Gluthitze des Feuers krümmte, erstarb die Hoffnung ein wenig mehr.
Doch dann, mit einem Mal, vernahm das Mädchen die Stimme der Großmutter, die ihm eine Geschichte zuflüsterte, wie sie es früher immer getan hatte. Inmitten der Flammen, die von der letzten
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