Nimmermehr
Seite des Buches aufstiegen, erkannte das Mädchen das Antlitz der alten Frau. Gütig lächelte die Großmutter ihr zu, umwob das Mädchen mit Worten so voller Wärme, dass sogar die Kälte der Winternacht ganz zu schwinden schien.
So schlief das Mädchen ein und begann zu träumen.
Es träumte von einer Frau, die im Pfandhaus eine alte Taschenuhr versetzte. Die Taschenuhr hatte die Frau einst von ihrer Mutter zum Geschenk erhalten. Ein Familienerbstück war die Taschenuhr, so voller Geschichten und Erinnerungen, dass niemand seinen Wert je würde bemessen können. Wie schwer der Frau das Herz wohl sein musste, dachte das Mädchen schlafend. Im Traum verließ die Frau das Pfandhaus, und in den Eiskristallen auf dem Schaufenster wurde sie mit einem Mal des Gesichts ihrer eigenen Mutter gewahr. Gütig lächelte die alte Frau ihrer Tochter zu, umwob sie mit Worten so voller Wärme, dass sogar die Verzweiflung über den Verlust der eigenen Tochter ganz zu schwinden schien.
Und mit einem Mal verstand das Mädchen, dass es gerade von seiner eigenen Mutter träumte, die damals nicht wieder nach Hause zurückgekehrt war. Dass sie beide einen Teil ihres Herzens fortgegeben hatten. Dass die alte Frau, die das Mädchen so geliebt hatte, zu Tochter und Enkelin gleichsam sprach, weil sie ihnen nur so den Weg zu weisen vermochte.
Als das Mädchen die Augen öffnete, läuteten die Glocken der Kirchtürme zur Mitternacht. Schneeflocken wirbelten durch die Gasse, und inmitten des Gestöbers stand des Mädchens Mutter und weinte vor Glück.
Denn der Augenblick, in dem die Dämonen der Vergangenheit auf die Geister kommender Tage treffen, ist gleichsam jener Moment, der es Wundern erlaubt, sich heimlich in die Welt zu schleichen. Und manchmal sind es die Träume von denen, die wir lieben und vermissen, die Tränen und Lachen in sich vereinen und zusammenführen, was sich einst verloren hat.
Cheapanooka’s Creek
written at 3:17 p. m. on a Monday in autumn and directed on a Wednesday and Friday afternoon
(a few weeks later) by Alan Smithee
Es ist Herbst. Der Mann betrachtet das Ortsschild und stellt fest, dass er ein Fremder ist. Früher einmal hat er hier gelebt und jeden Winkel der Wälder gekannt. Dann ist er fortgegangen. Hat studiert. An der UCLA und in Harvard. Jetzt ist er wieder hier. Steht vor dem Schild und liest den Namen der Stadt: Cheapanooka’s Creek. Erinnerungen kehren zurück.
»Ich bin David Kincaid.« So stellt er sich im Sägewerk vor.
»Rob Kincaids Sohn.« Der Sägewerksbesitzer ist feist und schmierig. Er kennt David noch von früher. »Du brauchst also einen Job.« Es ist keine Frage.
»Ja.«
Die Menschen in dieser Gegend machen nicht viele Worte. »Du hast den Job.«
So ist das in Cheapanooka’s Creek.
Fremde gehen in Cheapanooka’s Creek in »Maddy’s Motel«. Maddy Fosters Tochter heißt Susan. Sie trägt hautenge Jeans und eine Bluse, die ihre Brüste betont. David kennt sie noch von früher.
»Du bist also wieder hier«, sagt sie und fügt hinzu: »Professor.«
»Ja.« David weiß genau, wie sie das meint.
»Was willst du?«
»Kaffee.«
»Das meine ich nicht.«
David schaut zum Fenster hinaus. »Ich weiß.«
Sie lässt nicht locker. »Du bist einfach abgehauen. Damals. Wir waren ein Paar.«
David schweigt.
Sie bringt ihm den Kaffee. Das ist ihr Job.
David nippt daran.
Der Kaffee ist heiß.
So vieles bleibt unausgesprochen.
Es ist Abend.
Etwas haust in den dichten Wäldern, die Cheapanooka’s Creek umgeben.
Drüben am Cheapanooka Lake zelten zwei Teenies. Sie trinken. Reden. Kiffen. Fummeln. Die Überreste des blutig verschmierten Zelts findet ein Spaziergänger am nächsten Morgen. Keiner weiß, was geschehen ist. Die Teenies bleiben vermisst.
David arbeitet im Sägewerk. In der Kantine erzählt man sich Geschichten. Von den Wäldern.
»Dummes Zeug«, sagt David.
»Du warst lange fort«, sagen die anderen.
Eine Fliege schwimmt zappelnd im Kaffee.
David fragt sich, ob es eine gute Idee war zurückzukommen.
Die Arbeit im Sägewerk ist hart. Nicht zu vergleichen mit der Arbeit in Harvard und an der UCLA.
David und Susan begegnen sich am Abend. Sie reden.
Es ist, als sei er nie fort gewesen. »Du hast dich nicht verändert«, sagt Susan. »Du auch nicht.« So sehen sie einander an. Lange. Im Radio läuft »Smoke gets in your eyes«.
Etwas streift durchs Unterholz.
In dieser Nacht verschwinden zwei Katzen, ein Rottweiler, unzählige Wiesel,
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