Nimue Alban 10 - Der Verrat
honigsüß an.
»An deiner Stelle würde ich mir sehr genau überlegen, wie der Satz weitergeht «, meinte sie.
»Ich glaube, im Augenblick funktioniert mein Verstand nicht so recht «, gab er zurück. Er zog seine Gemahlin auf sich, während er ihr lächelnd in die Augen blickte. »Ich glaube, das ist einer jener Momente, in denen Schweigen Gold ist. «
Als Cayleb und Sharleyan zum Ratszimmer aufbrachen, das sie immer dann als Arbeitszimmer nutzten, wenn sie sich zufälligerweise beide gleichzeitig in Tellesberg aufhielten, hatte sich ihre Stimmung deutlich verändert.
Kein Untertan, nicht einmal einer, der auf absoluter Pflichterfüllung bestand, hätte vom Kaiserpaar erwartet, sich bereits einen Tag früher um ihre beruflichen Pflichten zu kümmern (jedenfalls nicht, nachdem ebenjene beruflichen Pflichten sie mehr als vier Monate voneinander getrennt ha t ten). Mit der Abendflut des gestrigen Tages war HMS Dawn Star in Tellesberg eingetroffen. Dort hatte man Sharleyan noch lautstärker empfangen als Cayleb nach seiner Rückkehr aus Chisholm. Die Bürger des Alten Königreichs Charis ha t ten Sharleyan jetzt beinahe fester ins Herz geschlossen als Cayleb. Gewiss, sie liebten sie beide. Aber Sharleyan beteten sie geradezu an. Caylebs Ansicht nach war das ein Zeichen guten charisianischen Geschmacks. In Tellesberg wie in ganz Charis (Alt-Charis und Chisholm zusammen) war man entzückt, weil der gut aussehende junge König und die wu n derschöne Königin tiefe Liebe füreinander empfanden. Das war nach einer Staatsheirat ja nicht unbedingt zu erwarten gewesen. Die halbe Stadtbevölkerung hatte sich am Hafen eingefunden und schaute zu, wie die Dawn Star sacht zum Königlichen Pier manövriert wurde. Das Volk hatte auch mitangesehen, dass Kaiser Cayleb schon die Laufplanke e m poreilte, bevor die Galeone fest vertäut gewesen war. Als er Sharleyan in die Arme geschlossen und sie sich dann einfach über die Schulter geworfen hatte, um sie die Laufplanke wieder hinunterzutragen, während sie lachte und ihn knuffte, war die ganze Menschenmenge in Jubelrufe und anfeuernde Pfiffe ausgebrochen. Hätte jemand vorzuschlagen gewagt, die beiden sollten jetzt etwas anderes tun, als sich umgehend in ihre privaten Gemächer zurückzuziehen, so wäre derjen i ge wahrscheinlich an Ort und Stelle geteert und gefedert worden.
So in Empfang genommen zu werden, war selbstredend unschicklich gewesen. Sharleyan war das durchaus bewusst. Andererseits war es ihr aber herzlich egal. Wenn man es ganz pragmatisch betrachtete, so war ihr noch etwas anderes sehr bewusst: Gerade dass Cayleb und sie höfisches Prot o koll und staatsmännisches Auftreten hin und wieder gefli s sentlich ignorierten, verschaffte ihnen nicht nur zusätzlich Respekt bei ihren Untertanen, sondern sorgte dafür, dass sie aus tiefstem Herzen geliebt wurden.
Sharleyan wusste, dass Graf Gray Harbor dachte wie das Volk von Charis: Der gestrige Abend hatte ganz allein C a yleb und ihr gehört, nicht dem Kaiserreich. Aber das war gestern gewesen. All die Nachrichten zu hören, vor denen man sie gestern, an jenem ersten kostbaren Tag, noch ve r schont hatte, war mit großer Wahrscheinlichkeit kein Grund zur Freude.
Das Kaiserpaar erreichte die Eingangstür des Ratszi m mers. Merlin folgte dichtauf, und Sergeant Seahamper sal u tierte, bevor er die Tür öffnete und einen Schritt zur Seite trat. Cayleb lächelte dem Sergeant zu und legte ihm kurz die Hand auf die Schulter. Dann führte er Sharleyan in den Saal hinein, in dem die wartenden Minister und Ratgeber sich respektvoll von ihren Plätzen erhoben.
»Nehmen Sie doch wieder Platz! « Mit einer Handbew e gung verlieh Cayleb seinen Worten Nachdruck. »Für För m lichkeiten ist auch später noch genug Zeit. Wenn ’ s unb e dingt sein muss. «
»Jawohl, Euer Majestät, selbstverständlich! «
Gray Harbor brachte das Kunststück fertig, gleichzeitig geduldig, belustigt und langmütig zu klingen. Cayleb schnitt eine Grimasse zu ihm hin, während er Sharleyan den Sessel am Tisch zurechtrückte. Der Erste Ratgeber lächelte ihn an, obwohl er hin und wieder Caylebs formloses Auftreten pei n lich fand. Schließlich war Cayleb selbst für einen Charisi a ner in wirklich erschreckendem Ausmaß formlos.
Doch alles in allem zog Gray Harbor das immer noch den ego-schmeichelnden Förmlichkeiten vor, all der Verbeugerei und den Kratzfüßen, die nur allzu viele Monarchen (und seines Erachtens sogar entschieden zu viele
Weitere Kostenlose Bücher