Nimue Alban 10 - Der Verrat
ist da noch die Frage des richt i gen Zeitpunkts. In weniger als einem Fünftag ist Gottestag – ich denke, noch ironischer kann ’ s nicht mehr werden. « Er legte eine Hand an das Szepter vor seiner Brust. »Unter di e sen Umständen glaube ich, es gibt nur einen einzigen Ort, an dem man angemessen über dieses Thema sprechen kann, Euer Majestät. «
In der Kathedrale von Tellesberg war es ungewöhnlich still – vor allem, wenn man bedachte, welcher Tag heute war: der zusätzliche Tag in der Jahresmitte. Er lag genau in der Mitte des Juli, wurde aber im Kalender bei der Nummerierung der Tage nicht mitgezählt. Der Gottestag war der höchste Feiertag der Kirche des Verheißenen. Natürlich gab es in jedem Monat kirchliche Feiertage und Feste und Hochämter zu Ehren der verschiedenen Erzengel. Doch der Gottestag war für etwas anderes vorgesehen: An diesem Tag sollte jedes Kind Gottes über seine eigene Seele nachdenken und über Gottes Plan für die ganze Menschheit. Es war der Tag der höchsten Feierlichkeiten, der Tag freudiger Gesänge. An diesem Tag wurden Geschenke verteilt, Kinder getauft, Hochzeiten gefeiert. Auf der ganzen Welt stiegen an diesem Tag Gesänge des Lobes und der Dankbarkeit zu Gottes Thron empor.
Am Gottestag wurden die Hochämter mit besonderer Fe i erlichkeit begangen, vor allem in jenen seltenen Fällen, in denen ein Erzbischof gerade dann seinen Gemeindebesuch abhielt. Natürlich geschah das nur äußerst selten: An jenem heiligsten aller Feiertage war es doch viel wichtiger, sich in Zion aufzuhalten, im Tempel. Deswegen mussten die Erzbi s tümer am Gottestag meist mit ihrem Bischof-Vollstrecker Vorlieb nehmen.
Doch nicht in Tellesberg, nicht an Orten wie Eraystor, Cherayth oder Manchyr. An jenen Orten begingen die Erzb i schöfe die Messe regelmäßig in ihren eigenen Kathedralen. Schon vor Sonnenaufgang war die Kathedrale von Telle s berg daher bis zum letzten Platz gefüllt. Tausende weiterer Kirchgänger drängten sich auf dem großen Platz vor dem Gotteshaus und in allen Richtungen weiter in die Straßen und Gassen hinein. Die Menschen standen überall auf dem Straßenpflaster, saßen in den Fenstern und auf den Dächern der Häuser, von denen aus man den Domplatz sehen konnte. Priester und Diakone hatten eine Kette gebildet, die weit in die Menschenmenge hinausreichte. Sie warteten auf Erzb i schof Maikels Predigt, um jedes einzelne seiner Worte an die erwartungsvolle Gemeinde weiterzugeben.
Niemand wusste, was genau der Erzbischof zu sagen b e absichtigte. Doch Maikel war auch für seine Predigten b e rühmt – und das ganz zu Recht. Denn sie waren stets lieb e voll und warmherzig und boten immer einen sanftmütigen Einblick in die Herzen und Seelen der Menschen. Selbst in den Reichen auf dem Festland wurden sie mit Interesse ve r folgt: In der nördlichen und östlichen Siddarmark wurden sie gedruckt und öffentlich verteilt; in anderen Ländern ging man nicht ganz so offen vor, und doch war es dort ähnlich. Tatsächlich stellten Maikels Predigten einen Großteil der gesamten Reformisten-Propaganda dar, die auf geheimni s vollen Wegen stets auf beiden Kontinenten verbreitet wurde, allen Versuchen der Inquisition zum Trotz, genau das zu verhindern.
Doch daran, wie öffentlich zugänglich Maikels Predigten in Charis waren, gab es nichts Geheimnisvolles. Sie alle wu r den regelmäßig in Druck gegeben und waren in Buchhan d lungen erhältlich. Sie wurden in den Tageszeitungen des Ka i serreichs abgedruckt, in Dörfern und Städten gleichermaßen wurden die wichtigsten Punkte auf großen Plakaten ausg e hängt. Das geschah nicht, weil Kirche oder Krone das verfügt hätten, sondern weil die Kunden in den Buchhandlungen und die Leser ebenjener Zeitungen es so verlangten.
Und doch hing an diesem Tag eine ganz besondere Anspannung in der Luft. Im Flüsterton verbreiteten sich G e rüchte, der Erzbischof habe an diesem Tag etwas Wichtiges zu sagen. Natürlich war die Stimmung am Gottestag immer aufgeladen, nicht zuletzt auch, weil es in dem Krieg, in dem sich Charis befand, um Fragen der Religion ging. Dieses Mal jedoch knisterte es aller Orten vor Spannung. Als der Chorgesang in der Kathedrale verhallte, schloss sich eine Stille an, in der schon ein unterdrücktes Husten wie ein K a nonenschuss gewirkt hätte.
Erzbischof Maikel erhob sich von seinem Thron und schritt zu der reich mit Schnitzereien verzierten, vergoldeten Kanzel hinüber. Jeder, der den Erzbischof schon einmal
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