Nimue Alban 10 - Der Verrat
herausfordernd wie belustigt. Gray Harbor und er kannten einander beinahe schon so lange wie Gray Harbor Staynair. Waignair, als stellvertretender Prälat der Kirche von Charis, vertrat den Erzbischof häufig bei Sitzungen des Kaiserlichen Rates, wenn Staynair von den Pflichten seines Kirchenamts zu sehr mit Beschlag belegt wurde. Genau so war es auch heute.
»Ich bin kein Schwarzseher! «, widersprach Gray Harbor würdevoll, während die Kutsche die Straße entlangrollte. »Ich bin lediglich ein gewissenhafter, nachdenklicher, ei n fühlsamer Diener der Krone – einfühlsam, jawohl! Es gehört zu meinen Aufgaben, mir Sorgen um Dinge zu machen, g e nau so wie es zu Ihren Aufgaben gehört, mir zu versichern, dass Gott auf unserer Seite sei! «
»Einfühlsam! «, schnaubte Waignair. »So nennen Sie das also, ja? «
»Wenn ich nicht gerade der Ansicht bin, ein hochtrabe n deres Wort wäre angemessen, dann ja «, antwortete Gray Harbor bedächtig, und der Bischof lachte auf.
»Ja, da ist sogar wirklich etwas dran! «, sagte er und hielt Daumen und Zeigefinger einen winzigen Spalt breit ause i nander. »Aber dieses ›etwas‹ ist verdammt klein! « Humo r voll funkelten seine Augen. »Aber wo jetzt Domynyk das Kommando innehat und Seijin Merlin uns dank seiner Vis i onen versichern konnte, dass alles gut gelaufen ist, finden Sie da wirklich nichts Besseres, worum Sie sich Sorgen m a chen könnten, als ausgerechnet den Jahras-Golf? «
Kurz dachte Gray Harbor nach, dann zuckte er mit den Schultern.
»Aber sicher! Einer der Gründe, warum ich mir um den Golf Sorgen mache, ist ja gerade, dass es gut gelaufen ist. « Waignair blickte ihn verdutzt an, und Gray Harbor lachte. »Ich meine das so: Wenn ich mir Sorgen oder zumindest Gedanken um etwas mache, von dem ich weiß, dass es wie erhofft gelaufen ist, hält mich das davon ab, mir Sorgen um all die anderen Dinge zu machen, von denen wir noch nicht wissen, ob sie wie erhofft laufen. Verstehen Sie, was ich meine? «
»Wissen Sie, es ist zwar erschreckend, aber ich verstehe tatsächlich, was Sie meinen «, erwiderte Waignair. »Wah r scheinlich verrät mir das so einiges über meinen eigenen Geisteszustand! «
Wieder lachte Gray Harbor, dieses Mal noch lauter. Kopfschüttelnd blickte ihn der Bischof an. Natürlich waren beide über die guten Nachrichten informiert, die Gray Harbor innerhalb des nächsten Fünftages auch offiziell verkünden würde. Als Angehöriger des Inneren Kreises hatte Waignair sogar mehrere Stunden des Gefechts mit Hilfe von Owls Fernsonden in Echtzeit mitverfolgt. Einen Großteil der Zeit hatte er damit verbracht, für die Seelen der Tausenden Se e leute zu beten, die in dieser Hölle aus Rauch, Feuer und e x plodierenden Schiffen verwundet und verstümmelt wurden oder sogar den Tod fanden. Er wusste auch ganz genau, we l chen gewaltigen Preis Domynyk Staynairs Flotte für diesen Sieg hatte zahlen müssen. Gray Harbor hatte keine Möglic h keit gehabt, den Kampf mit eigenen Augen mitzuerleben. Der Erste Ratgeber war jedoch ein erfahrener Flottenoffizier. Mit Blutbädern hatte er reichlich Erfahrung aus erster Hand. Schon vor geraumer Zeit hatte er sich damit abgefunden, dass Merlin in seinen Visionen erwiesenermaßen die Wah r heit sah. Seither hatte Gray Harbor Pläne ausgearbeitet, wie sich die Vernichtung der Desnairian Navy am besten nutzen ließe. Nun freute er sich schon darauf, genau diese Pläne in die Tat umzusetzen. Es hieß nur noch abzuwarten, bis die Berichte über das Gefecht auch offiziell nach Tellesberg g e langt waren.
»Das Problem ist doch nicht Ihr Geisteszustand, Hai n ryk «, gab Gray Harbor nun zurück. »Das Problem ist …«
Ainsail stand auf dem Bürgersteig, genau an dem En g pass, der sich zwischen dem großen Wagen und dem Gebä u de ergab. Er schaute zu, wie der Verkehr an ihm vorbe i strömte. Währenddessen überboten sich der Stellmacher und sein Geselle mit einfallsreichen Flüchen. Sie hatten gerade erst bemerkt, dass die Achse des Wagens keine Standardm a ße aufwies. Ainsail war sich recht sicher, dass die beiden, fertig damit, ihren Gefühlen freien Lauf zu lassen, rasch eine Lösung für das Problem fänden.
Wenn ihnen genug Zeit dafür bliebe, ging es ihm durch den Kopf, als er endlich den Wagen erspähte, auf den er die ganze Zeit gewartet hatte. Klugerweise hatte er dafür g e sorgt, dass die Reparaturen länger dauerten, als der Stellm a cher ursprünglich angenommen hatte. Denn der betreffende
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