Nimue Alban: Der Kriegermönch: Roman (German Edition)
zutiefst gerührt.
»Vielleicht sogar beides, Pater«, erwiderte er das Lächeln. »Vielleicht sogar beides.«
Merlin Athrawes stand vor dem Fenster seines Gemachs und blickte auf die geschäftige Straße vor der charisianischen Botschaft hinab. Dort wimmelte es vor Menschen; überall in der Hauptstadt der Republik schien es neue Kraft und neue Entschlossenheit zu geben. Kaum noch waren grimmige Furcht und graue Verzweiflung (bis hin zur Teilnahmslosigkeit) zu finden, die diesen ganzen Landstrich den Winter über erfasst hatte. Nach wie vor trafen Lebensmittellieferungen aus Charis ein. Mittlerweile aber hatte sich das Leben in der Stadt schon so weit normalisiert, dass man diese nun in genau den Geschäften erwerben konnte, auf die man sich auch sonst in Siddar-Stadt stets verlassen hatte – ob es nun Obst- und Gemüsehändler waren oder Fleischer. Für die, die es sich noch nicht leisten konnten, Lebensmittel zu kaufen, gab es immer noch die kostenlosen Rationen. Aber ein Großteil der eingeführten Güter wurde tatsächlich mittlerweile wieder ganz normal gekauft. Das hatte das Ausbluten von Baron Ironhills Kassen ein wenig eingedämmt … angesichts der immer weiter ansteigenden Kriegskosten im Ganzen ein Tropfen auf den heißen Stein. Auch der Handel mit dem östlichen Teil der Siddarmark nahm allmählich wieder Fahrt auf. Allerdings hatte er noch längst nicht das gewohnte Ausmaß erreicht. Auch das war kaum verwunderlich, nachdem es praktisch keinen Warenverkehr mehr durch die Republik in die Randstaaten oder in die Tempel-Lande selbst gab. Aber selbst wenn der ganze Handel nicht völlig zum Erliegen gekommen wäre, hatten die Geschehnisse der letzten Monate die Republik doch so schwer in Mitleidenschaft gezogen, dass die Nachfrage nach Handelsgütern sehr viel geringer war als zuvor. Überall fehlte es am nötigen Kleingeld, um die Handelsgüter zu finanzieren, mit denen eine etwaige Nachfrage hätte befriedigt werden können. Trotzdem lag in der Hauptstadt unbestreitbar Optimismus und Hoffnung in der Luft.
Merlin fragte sich, ob das auch so wäre, wenn jene Menschen dort unten das sehen könnten, was ihm Owls SNARCs zutrugen.
Schon ein kurzer Blick auf die Karte der Kanäle von East Haven reichte aus, um zu begreifen, warum Zhaspahr Clyntahn sich mit seinem ›Schwert Schuelers‹ vor allem auf den Nordwesten der Siddarmark konzentriert hatte: Die wichtigsten Verbindungswege zwischen East und West Haven führten durch die Randstaaten geradewegs nach Tarikah (genauer gesagt durch die Grafschaft Usher und durch Sardahn, durch das Herzogtum Ernhart und die Baronie Charlz). Von Seenstadt aus reichten sie dann in südlicher Richtung dank der Flüsse Hildermoss und Sair sowie des Sair-Selkyr-Kanals bis zur Provinz Westmarch. Nach Osten führten sie bis nach Siddar-Stadt. Möglich wurde das durch den Hildermoss und den Guarnak-Sylmahn-Kanal. Im Klima von Safehold froren derart weit nördlich gelegene Flüsse jeden Winter zu. Aber wenn sie eben nicht zugefroren waren, dann bildeten die Kanäle und Flüsse sowie das zugehörige Netzwerk aus Landstraßen die Arterien, die beide Teile von Haven miteinander verbanden und versorgten. So hatten auch die unerlaubten Handelswaren aus Charis trotz aller ausdrücklichen Verbote Clyntahns ihren Weg zu Interessenten in den Randstaaten gefunden – und den Tempel-Landen selbst.
Das allein hätte gereicht, um den Zorn des Großinquisitors zu wecken und dessen Aufmerksamkeit auf diesen Landstrich zu ziehen. Doch all seinem Größenwahn zum Trotz war Clyntahn alles andere als dumm. In seinem Zorn und seiner Rachsucht allen gegenüber, die es wagten, sich ihm in den Weg zu stellen, traf er gelegentlich gewaltige Fehlentscheidungen. Meist jedoch hatte er dafür auch dann erschreckend rationale Gründe. Merlin hatte kein Motiv, dem Großinquisitor gegenüber fair zu bleiben – schon gar nicht, wenn er dieses Thema mit niemandem außer sich selbst abhandelte. Aber zumindest einige von Clyntahns Fehlern basierten auf grundlegenden Veränderungen der Sachlage, von denen der Großinquisitor keinerlei Kenntnisse hatte. Er wusste etwa nicht, dass sämtliche Bewegungen seiner Armeen und Flotten rund um die Uhr durch Spionagesatelliten beobachtet wurden. Gut, er ließ bei seinen Überlegungen selten Spielraum für Unvorhergesehenes. Aber jede Überlegung zeugte von Intelligenz. Denn auch ohne SNARCs zu kennen oder zu haben, ging Clyntahn wie selbstverständlich davon aus, dass seine
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