Nimue Alban: Kampf um die Siddarmark: Roman (German Edition)
die hungernden Truppen, denen es bisher gelungen war, die alles entscheidende Bergkluft zu halten, brauchten Entsatz. Aber sollte er wirklich eine Feldarmee ausheben, die tief in den Osten von Mountaincross durch Schnee und Eis bis zu der entscheidenden Bergkluft vorstoßen müsste?
Diese Entscheidung hatte Greyghor Stohnar treffen müssen, lange bevor aus Tellesberg mit dem ersten Hilfsgütertransport eine Reaktion auf seine verzweifelten Bitten um Hilfe eintraf. Trotzdem hatte Stohnar jeden Mann in den Osten geschickt, den er nur entbehren konnte, und dazu die kostbaren Lebensmittel, die seine Truppen (unter Stohnars Vetter General Trumyn Stohnar) ebenso dringend brauchten wie die Zivilbevölkerung. Sharleyan hatte ganz recht: Der Reichsverweser war wirklich über Nacht gealtert. Tiefe Falten gruben sich in sein Gesicht, in seinem rabenschwarzen Haar gab es jetzt zahlreiche eisengraue Strähnen, und seine Wangenknochen traten beunruhigend deutlich hervor. Mittlerweile wirkte Stohnar gar ausgezehrt. Die Last der vielen Entscheidungen, die er zu treffen hatte, lag schwer auf seinen Schultern. Besonders schlimm für ihn war das Wissen um die Schrecken und Entbehrungen, die die Bürger in für den Reichsverweser nicht erreichbaren Landesteilen durchleiden mussten.
Greyghor Stohnar war stark. Jetzt saß er in einer der Bänke der Kathedrale von Siddarmark und barg das Gesicht in den Händen, seine Schultern bebten. Er vergoss Tränen der Dankbarkeit, während unter Glockengeläut der erste Geleitzug in der Bédard Bay eintraf. Der Schoner, den man vorausgeschickt hatte, um den Reichsverweser über das Kommen der Transportschiffe zu unterrichten, war durch hartnäckigen Gegenwind im Amboss aufgehalten worden, und so traf er weniger als zwölf Stunden vor dem Konvoi selbst ein. Die charisianischen Matrosen an Bord der Galeonen arbeiteten bis zum Umfallen, entluden Sack um Sack von charisianischem und emeraldianischem Reis, Yamswurzeln und Mais, dazu Kartoffeln, Karotten und Äpfel aus Tarot. Fässer um Fässer mit gepökeltem Fisch, Schweine-, Rind- und Drachenfleisch wurden aus den Frachträumen gehievt und an Bord kleinerer Lastkähne gebracht, die längsseits der Galeonen lagen. Endlos zog sich die Kolonne der Karren hin, die am Kai von Siddar-Stadt warteten. Milchkühe wurden an Land gebracht: Ersatz für die Tiere, die man vor lauter Verzweiflung geschlachtet hatte, als die Lebensmittel endgültig zur Neige gingen und Hungertod drohte. Auch Futter für die wenigen Nutztiere, die der Siddarmark noch verblieben waren, hatten die Schiffe geladen. Denn auch die Tiere mussten vor dem Verhungern bewahrt werden.
Reis und Yamswurzeln waren in der Republik weitgehend unbekannt. Doch Mütter mit ausgemergelten, hageren Gesichtern hatten Stunde um Stunde dem beißenden Wind und dem eisigen Regen getrotzt, um wenigstens ein paar Pfund der exotischen charisianischen Lebensmittel nach Hause zu bringen. Sie wussten genau, dass das, was sie hier mitnehmen konnten, für ihre Kinder den Unterschied zwischen Leben und Tod ausmachte. Als alle Galeonen entladen waren und die Rückreise nach Charis antraten, hatten sie zahllose verwaiste Kinder an Bord, die in Charis in Waisenhäusern, Hospitälern und Klöstern untergebracht werden sollten.
Es war die größte Hilfsmaßnahme in der Geschichte von Safehold; fast ein Viertel der gesamten Handelsflotte des Kaiserreichs Charis war daran beteiligt. Wie sich das auf den Handel und die Logistik des Militärs auswirken mochte, daran war gar nicht zu denken. Aber die Geleitzüge hatten genug Lebensmittel in die Republik geschafft, um mehr als anderthalb Millionen Bewohnern zu rund tausend Kalorien am Tag zu verhelfen. Zugleich sicherten sie für wenigstens drei Monate das Überleben fast einer halben Million Nutztiere, die dringend gebraucht wurden. Drei Monate, in denen Charis, Tarot und Emerald ihre eigenen Ackerflächen mehr als verdoppeln würden. Gleichzeitig säten im Osten der Siddarmark Arbeitskolonnen überall dort neue Früchte ein, wo der Boden nicht so durchgefroren war, dass kein Pflug ihn umbrechen konnte.
Nur allzu viele Männer, Frauen und vor allem Kinder waren trotzdem gestorben, und es würden ihnen noch viele weitere folgen. Siddar-Stadt allerdings war nicht der einzige Ort, an dem charisianische Konvois lebensnotwendige Versorgungsgüter an Land gebracht hatten. In den Provinzen Trokhanos, Malitar, Windmoor, Rollings … überall waren charisianische Schiffe vor Anker
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