Nimue Alban: Kampf um die Siddarmark: Roman (German Edition)
Untertanen ihres Vaters ganz auf seine Seite gezogen hatte. Damals hatte sie nicht verstanden, wie das gelungen sein sollte. Welche finstere Gabe hatte ihm Shan-wei gewährt, dass er gottesfürchtige Kinder von Mutter Kirche dazu verleiten konnte, seine Worte hinzunehmen? Wie konnte er die Bischöfe und Priester von Mutter Kirche dazu bringen, die Autorität eines Ketzers über die des Großvikars zu stellen? Cayleb Ahrmahks Reaktion auf den Angriff, der auf sein Königreich geführt worden war, und auf den Tod seines Vater in der Schlacht war gewiss nachvollziehbar. Daher musste die Wahrheit sein, dass allein Maikel Staynair die Schuld für die Kirchenspaltung trug. Er war ein abtrünnige Bischof und Verräter an Mutter Kirche. Er hatte die Revolte gegen den Tempel und das Vikariat angeführt – aus dem Inneren von Mutter Kirche heraus! Und dabei wurde, zum ersten Mal seit Shan-weis Rebellion, die Welt wieder in zwei verfeindete Lager geteilt.
Doch nun hatte Irys herausfinden müssen, dass es schlichtweg unmöglich war, in den sanften, mitfühlenden Augen des ketzerischen Bischofs das Ungeheuer zu sehen, das er Mutter Kirche nach sein musste. Ebenso unmöglich war es, auch nur zehn Minuten in seiner Gegenwart zu verbringen, ohne deutlich zu spüren, dass Maikel Staynair, anscheinend ganz ohne bewusstes Zutun, jeden Menschen zutiefst anrührte und ihm wahrhaft nahekam.
Das Kaiserpaar hatte Daivyn und sie mit keinem Wort, keiner Geste genötigt, einer Messe in der Kathedrale von Tellesberg beizuwohnen. Sie hatten ihnen sogar zugesagt, sie dürften regelmäßig Pater Davys Tyrnyr besuchen, einen Oberpriester, der furchtlos Tempel und Großvikar die Treue hielt. Das Kaiserpaar hatte Pater Davys gestattet, in einer der zahllosen kleinen Kapellen des erzbischöflichen Palastes für die Geschwister privat die Messe zu feiern. Auch die Unverletzlichkeit des Beichtgeheimnisses blieb für die beiden gewahrt. Das widersprach bereits allem, was der Großinquisitor über Charis verkünden ließ. Tempelgetreuen mitten in Tellesberg wurde im Gegenteil zugestanden, ihren Glauben offen auszuleben: Sie durften dem Großvikar und der ›Vierer-Gruppe‹ die Treue halten, ohne durch Krone oder Kirche unterdrückt zu werden. Irys wusste nur zu gut, was jedem widerfuhr, der in Delferahk oder einem anderen Reich auf dem Festland offen für die Reformistenbewegung eintrat – geschweige denn sich der Kirche von Charis auszuschließen! Hier, mitten in der Hauptstadt eines Kaiserreichs, das keinerlei Aussicht auf Überleben hatte, solange Mutter Kirche nicht niedergerungen war, genossen all jene, die jener Mutter Kirche die Treue hielten, ausdrücklich den Schutz durch die Krone. Wie nur war das möglich? Aus Sicht einer Rechtgläubigen ergab das tatsächlich keinen Sinn. Trotzdem hatte Irys Toleranz Andersgläubigen gegenüber mit eigenen Augen gesehen und mit eigenen Ohren gehört. Selbst Pater Davys hatte das einräumen müssen.
Irys hatte mehr als drei Fünftage lang gebraucht, um in Erfahrung zu bringen, wer die Person war, die sicherstellte, dass Daivyn und sie jederzeit Pater Davys aufsuchen durften: niemand anderer als Maikel Staynair persönlich. Irys zweifelte nicht daran – mittlerweile nicht mehr! –, dass das Kaiserpaar den beiden Flüchtlingen ohnehin Zugang zu dem Priester von Mutter Kirche gestattet hätte. Aber Staynair hatte das Ganze ausdrücklich gebilligt: Er hatte seine Gardisten angewiesen, einen allgemein bekannten Tempelgetreuen und auch dessen Altardienern zu gestatten, den Palast des Erzbischofs zu betreten – ohne dass sie zuvor auch nur nach Waffen durchsucht wurden. Dabei hatten Tempelgetreue schon mindestens zweimal versucht, das Oberhaupt der Kirche von Charis zu ermorden, einmal sogar in dessen eigenen Kathedrale. Doch Staynair bestand darauf. Er glaubte wahrhaftig daran, jeder Mensch habe das Recht und die Pflicht, für sich selbst zu entscheiden, wem seine spirituelle Treue gelte. Staynair war der Ansicht, die Seele eines jeden Menschen sei zu kostbar, als dass jemand anderes sie in Gefahr bringen oder zu etwas nötigen dürfe. Und was ihm mindestens ebenso wichtig schien: Kein politisches Ziel, so wichtig es auch sein mochte, durfte diesen grundlegenden Glaubensartikel übertrumpfen.
Das zu begreifen hatte Irys Daykyn regelrecht die Sprache verschlagen. Sie war eine Prinzessin und aufgewachsen als Prinzessin. Politik, das hatte sie erfahren, hatte hin und wieder gar keine andere Wahl, als gegen den
Weitere Kostenlose Bücher