Nina, so gefällst Du mir
nur sagen, ich ziehe dir in diesem Monat fünfzig Prozent von deinem Lohn ab.“
Nina lachte hellauf. Sie umarmte Grete ganz rasch einmal, ehe sie sich die Schürze überwarf.
„Ja, aber wo seid ihr denn gewesen?“ wiederholte Grete. „So früh am Morgen?“
„Draußen“, sagte Nina mit strahlenden Augen. „Wir waren draußen und haben den Sonnenaufgang erlebt.“
„Den Sonnenaufgang?“ Gunnar nickte. Seine Augen hingen an Nina. „Ja, den Sonnenaufgang“, antwortete er, und seine Stimme hatte einen neuen, weichen, ganz veränderten Klang, „den Sonnenaufgang in mehr als einem Sinn.“
Es geschieht immer das Unerwartete
„Liebes Ninachen!
Herzlichen Dank für Deinen langen Brief. Du kannst Dir gar nicht denken, wie wir uns freuen, daß Du Dich offenbar so glänzend erholt hast und Dich so wohl fühlst. Wir haben ja nicht gerade gedacht, daß diese Stellung als Hotelmädchen Dich wieder ins rechte Geleise bringen sollte. Aber wenn es wirklich stimmt, was Du schriebst, daß Du wie ein Murmeltier schläfst und acht Pfund zugenommen hast, dann ist ja alles gut und schön, und wir werden Dr. Christensen vorschlagen, daß er blutarmen und niedergeschlagenen Rekonvaleszenten immer Arbeit im Hotel verordnet.
Ja, was nun Deine Zukunftspläne anbetrifft: Du hast natürlich recht, wenn Du sagst, Du schwankst hin und her wie ein Rohr im Wind. Erst haben wir Dich im Gymnasium angemeldet, da änderst Du schon wieder Deinen Plan. Aber Du weißt, wir sind schwache Eltern und verstehen Dich. Dein Brief verrät uns mit aller Deutlichkeit, daß Du im Begriff bist, Dich selbst zu finden. Und so brauchen wir dichjetzt nicht zu überreden, daß Du die Pläne änderst, über die wir uns früher schon längst einig gewesen sind. Also machen wir einen Strich unter das Gymnasium und tun alles, was wir können, um Dich trotzdem in der Kunstgewerbeschule anzubringen. Aber nun bitte nicht noch weitere Änderungen. Dein Plan mit dem Gymnasium war wahrscheinlich nicht gründlich durchdacht. War er nicht vielleicht eher eine plötzliche Laune?
Wann hast Du eigentlich die Absicht, nach Hause zu kommen? Wir verstehen natürlich, daß Du Grete nicht im Stich lassen willst. Es war ja großartig, daß Du einspringen und ihr helfen konntest. Und Du hast vermutlich Deine Kenntnisse aus der Haushaltungsschule gut verwenden können.
Uns geht es gut. Wir vermissen unser liebes Kind, aber wir freuen uns darüber, daß Du wieder ganz obenauf bist.
So, und Gunnar Wigdahl ist also plötzlich aufgetaucht. Ja, das ist natürlich eine Überraschung für Dich. Und daß ihr Euch so angefreundet habt. Der arme Espetun! Er hat seine ganze gute Laune verloren, nachdem der liebe Neffe ihn verlassen hat. Er ist übrigens im Augenblick geschäftlich unterwegs.
Sonst können wir von hier nichts weiter berichten. Laß es Dir gutgehen, Kindchen. Wir werden schreiben, sobald die Antwort von der Kunstgewerbeschule da ist.
Viele Grüße an Grete und schreib wieder. Wir freuen uns immer so, wenn ein Brief von Dir im Briefkasten liegt. Tausend liebevolle Grüße!
Mama und Papa“
„Nun, gute Neuigkeiten, Nina?“ Nina lächelte und blickte auf.
„Ja, meine Eltern sind phantastisch! Sie wollen es trotzdem versuchen, die Sache mit der Kunstgewerbeschule für mich zu regeln.“
„Wann kommst du nach Oslo? Wo willst du wohnen?“
„Bei einer Tante von mir. Sie ist Witwe, und sie vermietet Zimmer an Studenten und Schüler!“
Gunnar spitzte die Ohren. „Was sagst du? Zimmer in der Mehrzahl, an Studenten in der Mehrzahl?“
„Ja, ja, ach Gunnar – natürlich, Gunnar, daß ich daran nicht früher gedacht habe! Natürlich, selbstverständlich, ich werde ihr stehenden Fußes schreiben!“
„Ja, aber halt mal! Ist sie nicht vielleicht viel zu teuer mit ihren Zimmern?“
„O nein! Tante Betty ist ein anständiger Mensch. Sie rupft arme, junge Studenten bestimmt nicht. Ich schreibe sofort, Gunnar.“
„Ja, aber du – das kleinste und billigste, das sie hat.“
„Ja, ja“, lächelte Nina. „Vielleicht hat sie eine Kiste auf dem Hof, in der du wohnen kannst. Pump mir mal deinen Kugelschreiber, dann schreibe ich sofort.“
„So, das tust du, und der Aufwasch?“
„Den machst du mit Bella zusammen.“
„Wie du willst! Wenn ich dann bloß nicht aus alter Gewohnheit versehentlich das Aufwaschmädchen küsse!“
„Dann würdest du Bella jedenfalls glücklich machen“, lächelte Nina und setzte sich an den Küchentisch,
Weitere Kostenlose Bücher