Ninragon – Band 1: Die standhafte Feste (German Edition)
schlimm aus. Da war eine Menge gebrochen. Manchmal wimmerte sie leise vor sich hin, kaum bei Bewusstsein und nur in Idirisch. Auric erkannte Textfetzen aus Murinjas Annalen, ihre Lieblingstellen, die sie ihm als Kind wieder und wieder vorgetragen hatte. Wie all die anderen Bücher, an die sie sich mit absoluter Textsicherheit erinnern konnte – wenn sie sich nicht in ihrer kleinen, vom Zufall zusammengestellten Bibliothek befanden. Sie waren schließlich ihre einzige und letzte Verbindung zur Welt Idiriums.
Ein knackendes, fauchendes Feuer im Kamin, das die Dezemberkälte aus dem Gemäuer vertreiben sollte, kochte die Luft im Raum zu dumpfer, wollener Glut hoch, die ihm das Atmen zur Qual machte.
Sie lag zusammengekrümmt auf dem mit Decken und Fellen überhäuftem Lager, das bis vor zwei Jahren noch dem Hochthan der Vraigassen gehört hatte. Der Heiler seines Vaters hatte von ihr abgelassen, füllte jetzt mit betretener Miene Räucherschalen mit seinen Kräuter- und Gewürzmischungen und entzündete sie rings um die Lagerstatt.
Der Umzug des Thans der Aivara-Skrimaren und seines Hofs auf die eroberte Burg des besiegten Feindes, diese Inbesitznahme steingewordener Erinnerung an den alten Glanz der Valgaren, hatte seiner Mutter kein Glück gebracht. Das alles hatte nicht die sich immer wieder auch an ihr entladende Gewalttätigkeit von ihrem Mann nehmen können, und diesmal hatte einer seiner Ausbrüche offensichtlich jede Grenze weit überschritten.
Sie sagte nicht mehr viel – sie war auch kaum noch bei Bewusstsein –, außer dass sie immer wieder die gleichen Zeilenfragmente aus den Epen und den Novellensammlungen, immer wieder Murinja, Donutrake und Epokrav widerholte. Und immer wieder Torarea, vor allem Torarea. Wenn sie die Augen öffnete, ging ihr Blick ins Leere.
Der Heiler machte keine Anstalten zu gehen und setzte sich auf den Stuhl neben dem Bett, stumm wie eine Stele in seiner langen, braunen Kutte. Der Blick, mit dem Auric ihn durchbohrte, ließ sein Gesicht zu einer panischen Maske erstarren, doch rührte er sich nicht aus seinem Stuhl, wahrscheinlich weil er noch größere Angst vor Aurics Vater hatte.
Eine Fliege kam herbeigesummt, ließ sich auf ihrem blau angelaufenen Jochbein nieder, und sie zuckte zusammen. Auric verscheuchte das Insekt, sah, als er wieder hinblickte, dass ihr Blick aus den zugeschwollenen Schlitzen, zu denen ihre Augen geworden waren, sich auf ihn richtete. Sie flüsterte etwas. Es war nur noch ein schwächliches, verquollenes Stammeln. Auric beugte sich vor, das Ohr an ihrem Mund, konnte die Worte jedoch auch so kaum verstehen. Er glaubte, drei Worte auf Idirisch zu verstehen. „Sohn …“ und „… kein Schlächter …“
Dann verließ sie auch ihre Muttersprache und Momente darauf ihr Leben.
Auf der Treppe und im Gang vor dem Raum waren keine Wachen. Sein Vater war noch immer schwer betrunken, und keiner wagte es, ihm unter die Augen zu treten.
Auric stürmte hinein. Das Krachen der schweren Holztür und der Eisenbeschläge gegen die Wand, ließ seinen Vater hinter dem Tisch auffahren. Der Weinkrug stieß um, kippte zur Tischkante und zerschellte auf dem Boden.
Auric suchte nach irgendeinem Ausdruck in den zu ihm hoch blickenden Augen, aber – vielleicht lag es an ihm und der Erregung, die in seinem Blut hochkochte und es hinter seinen Schläfen rauschen ließ – er konnte nichts als stumpfen Alkoholrausch darin erkennen.
Er griff an seine Seite und zog sein Schwert.
Sein Vater sprang auf und griff nach dem schweren Zweihänder, der vor ihm auf dem Tisch lag. Mit dem scharrenden Klirren der Klinge schien auf einmal der Rausch hinter den Augen seines Vaters weggewischt und durch den kalten und von Erfahrung und Instinkt geprägten Blick des Kämpfers ersetzt zu werden.
„Vater“, sagte Auric, „jetzt bekommst du endlich den Sohn, den du verdienst.“
Schattenwürfe
Er erwachte schließlich endgültig dadurch aus seinem Schlaf, dass ein Mann, der in bleichen Flammen stand, den Raum betrat.
Schon vorher hatte Auric sich in einem unruhigen, traumdurchwebten Zustand befunden, wo die Bilder aus dem Reich des Schlafes von vagen Stimmen seiner Umgebung durchgeistert wurden, ein neblig verschwommenes umeinander her Tanzen. Dann fiel ein heller Schimmer auf sein Gesicht, und machte ihm bewusst, dass da eine Welt dort draußen und nicht nur etwas innerhalb von ihm war. Der helle Schimmer drang durch seine geschlossenen Lider. Er öffnete die Augen und
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