Nirgendwo in Afrika
war, kein Außenseiter und Ausgestoßener mehr zu sein. Bei jedem starb endlich die lange Zeit wider alle Vernunft gehegte Illusion, den Zurückgebliebenen in Deutschland doch noch helfen und sie nach Kenia nachholen zu können. Obwohl er sich zu wehren versuchte, gab Walter seinen Vater und seine Schwester ebenso verloren wie schon die Schwiegermutter und Schwägerin.
»Von den Polen haben sie keine Hilfe zu erwarten«, erzählte er Oscar Hahn, »und für die Deutschen sind sie polnische Juden. Jetzt hat mir das Schicksal ein für allemal bestätigt, daß ich versagt habe.«
»Versagt haben wir alle, aber nicht jetzt, sondern 1933. Wir haben zu lange an Deutschland geglaubt und die Augen zugemacht. Verzagen dürfen wir nicht. Du bist nicht nur Sohn. Du bist auch Vater.«
»Ein schöner Vater, der noch nicht einmal das Geld für den Strick verdient, an dem er sich aufhängen kann.«
»So etwas darfst du noch nicht einmal denken«, sagte Hahn wütend. »Es werden so viele von uns sterben, die leben wollen, daß die Geretteten keine andere Wahl haben, als für ihre Kinder weiterzuleben. Davonkommen ist nicht nur Glück, sondern Verpflichtung. Vertrauen ins Leben auch. Reiß dir endlich Deutschland aus dem Herzen. Dann wirst du wieder leben.«
»Ich hab's versucht. Es geht nicht.«
»Das dachte ich früher auch, und wenn ich jetzt an den feinen Frankfurter Rechtsanwalt und Notar Oscar Hahn denke, der eine Bombenpraxis und mehr Ehrenämter als Haare auf dem Kopf hatte, kommt er mir wie ein fremder Mann vor, den ich früher einmal flüchtig gekannt habe. Mensch Walter, nutz die Zeit hier, um mit dir selbst Frieden zu schließen. Dann kannst du wirklich neu anfangen, wenn wir hier rauskommen.«
»Gerade das macht mich so verrückt. Was wird aus mir und meiner Familie, wenn King George nicht mehr für uns sorgt?«
»Noch hast du deine Stellung in Rongai.«
»Das >Noch< hast du besonders hübsch gesagt.«
»Wie wär's, wenn du mich Oha nennst?« lächelte Hahn, »den Namen hat meine Frau für die Emigration erfunden. Fand ihn nicht so deutsch wie Oscar. Ist eine patente Frau, meine Lilly. Ohne sie hätte ich nie gewagt, die Farm in Gilgil zu kaufen.«
»Versteht sie denn so viel von der Landwirtschaft?«
»Sie war Konzertsängerin. Vom Leben versteht sie viel. Die Boys liegen ihr zu Füßen, wenn sie Schubert singt. Und die Kühe geben gleich mehr Milch. Du wirst sie ja hoffentlich bald kennenlernen.«
»Du glaubst also an Süßkinds Theorie?«
»Ja.«
»Leute wie Rubens«, pflegte Süßkind bei den Diskussionen um die Zukunft und die Haltung der Militärbehörde zu dozieren, »können es sich gar nicht leisten, daß man alle Juden zu Enemy Aliens stempelt und uns hier den ganzen Krieg schmoren läßt. Ich wette, der alte Rubens und seine Söhne sind schon dabei, den Engländern klarzumachen, daß wir lange vor ihnen gegen Hitler waren.«
Colonel Whidett mußte sich tatsächlich mit Problemen beschäftigen, für die er absolut unzureichend präpariert war. Er fragte sich fast jeden Tag, ob selbst schwerwiegende Differenzen mit dem Kriegsministerium in London unangenehmer hätten sein können als die regelmäßigen Besuche der fünf Brüder
Rubens in seinem Büro, ganz zu schweigen von dem temperamentvollen Vater. Der Colonel gestand sich ohne Scham ein, daß ihn bis Kriegsausbruch die Ereignisse in Europa nicht sehr viel mehr interessiert hatten als die Stammeskämpfe zwischen den Jaluo und Lumbwa rund um Eldoret. Es irritierte ihn jedoch, daß die Familie Rubens so genau über wirklich schockierende Details im Bilde war und er sich wie ein Ignorant vorkam, wann immer sie ihn heimsuchte.
Whidett kannte keine Juden, sah er von den beiden Brüdern Dave und Benjie ab, denen er im ersten Jahr in der Boarding School in Epsom begegnet war und die ihm als widerlich ehrgeizige Schüler und miserable Cricketspieler in Erinnerung geblieben waren. Er fühlte sich also zunächst durchaus im Recht, wenn er in den unangenehmen Gesprächen, die die Zeit ihm aufzwang, auf das Herkunftsland der Internierten verwies und die daraus nicht zu unterschätzenden Schwierigkeiten für sein kriegführendes Mutterland. Allerdings erschienen ihm bedauerlicherweise seine Einwände sehr schnell nicht so stichhaltig wie ursprünglich gedacht. Schon gar nicht, wenn er sie vor seinen unwillkommenen Gesprächspartnern hervorbringen mußte, die die Beredsamkeit von arabischen Teppichhändlern und die Überempfindlichkeit von Künstlern
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