Nixenblut
dass ich mitkomme. Sie ist wie ein Magnet.
Hätte ich meine Füße nicht in den Sand gebohrt, würde sie mich forttragen.
Aber was macht Conor da drüben, an der Mündung der Bucht, wo das Wasser tief ist? Er muss dorthin geschwommen sein.
Er hat mich noch nicht gesehen. Er sitzt immer noch abgewandt. Ich öffne meinen Mund, um ihn zu rufen. Da dreht Conor plötzlich seinen Kopf, als würde er …
Als würde er mit jemandem reden.
Ich kämpfe gegen die Strömung an. Ich lasse nicht zu, dass sie mich weiter hinauszieht. Ich werde Conor nicht rufen. Als ich mich umdrehe, um in seichteres Wasser zu kommen, saugt das Meer gierig an meinen Beinen. Offenbar will es mich nicht gehen lassen, aber es hat keine Wahl. Seine Macht ist gebrochen.
Im knietiefen Wasser wate ich der linken Seite der Bucht entgegen. Von dort aus kann ich Conor besser beobachten. Ich will seine Aufmerksamkeit nicht erregen. Ich will nur einen guten Blick auf den Felsen haben.
Jetzt sehe ich ihn deutlich vor mir. Conor ist nicht allein. An der Felsenkante zeichnet sich ein weiterer Kopf ab. Ein scharf umrissener, dunkler Kopf. Als er sich dreht, sehe ich sein Profil und die langen nassen Haare. Es ist ein Mädchen. Ihre langen Haare fallen ihr auf den Rücken, genau wie bei mir. Jetzt wird mir klar, dass ich ihren Körper für einen Teil des Felsens gehalten habe. Sie muss einen Taucheranzug tragen. Sie und Conor sitzen dicht beieinander und unterhalten sich wie alte Freunde, die sich so viel zu erzählen haben, dass sie von ihrer Umwelt keine Notiz mehr nehmen.
Sie haben mich nicht gesehen. Conor hat kein einziges
Mal aufgeschaut. Worüber reden sie bloß die ganze Zeit? Sie sind viel zu weit weg, als dass ich ihre Stimmen hören könnte.
Ich habe das Mädchen noch nie gesehen, da bin ich ganz sicher. Dabei kenne ich doch jeden Menschen in dieser Gegend. Wie kann das sein?
Vielleicht ist sie eine Touristin. Es kommen nur selten Touristen in diese Bucht, weil sie so schwer zu erreichen ist. Vielleicht hat das Mädchen Conor nach dem Weg gefragt, sie kamen miteinander ins Gespräch und gingen schwimmen … ohne mich.
Nein, ich will nicht, dass sie mich sehen. Conor würde denken, ich hätte ihm nachspioniert. Er wollte mich nicht dabeihaben, sonst hätte er mir erzählt, dass er zur Bucht geht. Wir schwimmen immer gemeinsam – nicht nur weil es hier gefährlich sein kann, sondern weil wir gerne zusammen sind.
Ich wate an den Strand. Das Wasser saugt an meinen Fersen, aber nur noch sehr schwach, als wüsste es, dass es keine Chance mehr hat. Meine nassen Kleider kleben mir am Körper. Vielleicht sollte ich ins Haus gehen und mich umziehen ? Nein, ich will Conor hier nicht allein lassen. Das ist zu gefährlich.
Ich stapfe fröstelnd an der Gezeitenlinie entlang, obwohl die Luft immer noch warm ist. Ich hebe Muscheln und kleine weiße Treibholzstücke auf und lasse sie wieder fallen. Alle fünf Minuten werfe ich einen kurzen Blick zu der Mündung der Bucht. Sie sind immer noch da, Conor und das fremde Mädchen, das nicht aus dieser Gegend stammt. Sie sitzen immer noch dicht beieinander und nehmen keine Notiz von mir, konzentrieren sich ganz aufeinander.
Doch als ich das nächste Mal gucke, ist das Mädchen verschwunden und Conor allein. Er steht unmittelbar an der Kante des Felsens und starrt in die Tiefe. Doch wo ist das Mädchen geblieben? Dann beugt er seinen Oberkörper, als wolle er im nächsten Moment ins Wasser springen. Ich werde von einer rasenden Panik ergriffen, und noch ehe ich mich besinne, habe ich seinen Namen gerufen.
»Conor! CONOR!«
Er hebt den Kopf und schaut sich um. Ich renne an der Wasserkante entlang, winke und rufe.
»Ich bin’s, Conor!«
Er fährt herum und sieht mich. Eine ganze Weile starren wir uns über das Wasser hinweg an, doch sind wir zu weit voneinander entfernt, um unsere Mienen erkennen zu können. Dann, ganz langsam, hebt er seine Hand und winkt mir zu.
»Komm nach Hause, Conor. Das Essen ist fertig.«
Er winkt erneut, bevor er sich behutsam auf den Weg über die nassen, glitschigen Steine macht. Eigentlich könnte er auch einfach ins Wasser springen und zu mir hinüberschwimmen, aber das tut er nicht. Er klettert über die Felsen, die sich an der Bucht entlangziehen, und springt nur dort ins Wasser, wo es seicht ist. Durchs knietiefe Wasser watet er mir entgegen. Er runzelt die Stirn, sieht jedoch nicht verärgert aus, sondern eher so, als würde er über einer kniffligen Matheaufgabe
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