Nixenblut
das, Conor! Es ist Abend, siehst du das nicht? Schau nur, wie tief die Sonne schon steht.«
Conor blickt sich um. Er starrt zur Mündung der Bucht, hinter der die goldene Abendsonne schon dem Horizont entgegenstrebt. Ihm wird klar, dass ich die Wahrheit sage.
»Vielleicht bin ich eingeschlafen«, sagt er langsam. Er sieht verwirrt aus, verloren, ganz anders, als mein Bruder Conor normalerweise aussieht.
»Du hast mit einem Mädchen geredet. Ich habe sie gesehen. Sie muss über die Felsen verschwunden sein«, sage ich, doch diesmal sage ich es sehr leise – nicht weil ich einen Streit gewinnen will, sondern um ihm die Wahrheit klar zu machen. Und diesmal schweigt Conor. »Wer ist sie?«, frage ich, obwohl ich nicht erwarte, dass er es mir verrät. Das tut er auch nicht. Sein Gesicht ist blass, ausgezehrt. So ausgezehrt wie nach einem langen Tag auf See. Er will jetzt nicht reden. Seite an Seite gehen wir durch den Sand, den Steinen entgegen, zwängen uns durch die Felsblöcke und treten den Heimweg an. Ich fühle mich zittrig am ganzen Körper. Ich weiß genau, dass da ein Mädchen war. Zuerst saß sie neben Conor auf den Steinen und dann war sie plötzlich weg.
In dieser Nacht liege ich wach. Conor ist oben auf dem Dachboden. Er kann nicht die Leiter hinunterklettern, ohne dass ich es merke. Ich habe Angst einzuschlafen, weil er dann möglicherweise an mir vorbeischleicht und das Haus verlässt. Aber warum sollte er das tun? Mir fällt kein Grund ein, doch gegen meine Angst kann ich nichts machen.
Auch Dad hatte keinen Grund, uns zu verlassen.
Ich weiß, dass Conor noch nicht schläft, weil ich vor einer Minute gehört habe, wie er vorsichtig in Richtung Fenster gegangen ist. Erst das Geräusch nackter Füße, dann Stille. Jetzt steht er am Fenster und blickt aufs Meer hinaus. Ich weiß es genau. Meine Augen brennen vor Müdigkeit, aber
ich darf noch nicht einschlafen. Ich muss damit warten, bis Mum nach Hause gekommen ist.
Wir haben Mum beide versprochen, dass wir niemals allein in der Bucht baden. Es ist so still und einsam dort, dass jede Hilfe zu spät käme, wenn etwas passieren würde. Wir haben unser Versprechen immer gehalten – bis heute. Und es war nicht nur Conor, der es gebrochen hat. Hätte ich ihn nicht auf dem Felsen gesehen, wäre ich noch tiefer ins Wasser hineingegangen. Es hat mich angezogen wie ein Magnet.
Wie weit hätte es mich gezogen? Vielleicht gibt es auch so etwas wie die Magie des Meeres. Dad hatte ja einmal von der Erdmagie Granny Carnes erzählt. Was hat es mit der Meermagie auf sich? Das Meer ist wild und stark, und wenn du nur einen einzigen Fehler machst, musst du dafür bezahlen. Manche bezahlen mit ihrem Leben.
Dad sagte immer, das Meer hasst dich nicht und es liebt dich nicht. Es liegt an dir, seine Gesetze zu verstehen und dafür zu sorgen, dass dir nichts passiert.
Doch an meine Sicherheit habe ich keinen Gedanken verschwendet, als ich heute in der Bucht war. Ich wollte mich einfach aufs Meer hinaustreiben lassen. Die Anziehungskraft war so stark, dass ich nicht mal an Mum und Conor dachte. Ging es Conor genauso? Hat er alles um sich herum vergessen, sodass ihm die Stunden später wie Minuten vorkamen? Er hat mit dem Mädchen geredet. Ich habe mir das nicht eingebildet. Sie trug einen Taucheranzug und ihre nassen, wirren Haare hingen ihr über die Schultern und verdeckten ihren Körper. Sie redeten und lachten. Es schien auch nicht so, als sähen sie sich zum ersten Mal.
Meine Uhr! Mum dreht durch, wenn sie rauskriegt, dass meine Uhr nicht mehr geht. Sie sagt, die Uhr sei viel zu gut
für den Alltag; ich solle sie weglegen und nur zu bestimmten Anlässen tragen.
»Dad hat aber gesagt, ich kann sie jeden Tag tragen«, entgegnete ich. Schließlich gab Mum nach.
»Aber du musst gut auf sie aufpassen, Sapphy. Du bist manchmal so nachlässig.«
Das hört sich wie mein Schulzeugnis an: Gute Arbeit wird durch Nachlässigkeit zunichte gemacht. Sapphire muss lernen, sich zu konzentrieren, anstatt sich Tagträumen hinzugeben.
Mum sagte: »Es wäre ein Wunder, wenn sich die Uhr in sechs Monaten noch an deinem Handgelenk befindet, Sapphy.«
»Du kannst dich darauf verlassen.«
»Na, schön, ich hoffe, dass ich mich irre.«
Sie hat sich geirrt. Nach mehr als einem Jahr befindet sich die Uhr immer noch an meinem Handgelenk. Vielleicht bemerkt Mum ja gar nicht, dass sie kaputt ist.
Conor auf seinem Dachboden schläft nicht, sondern starrt unbeweglich aus dem Fenster.
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