Nixenblut
meinten sie nur damit?
Ich gehe die Liste noch mal durch und streiche die Punkte drei und vier. Bleiben also eins, zwei und fünf. Josh Tregonys Dad hat ihm mal erzählt, dass ein Fischkutter vor der schottischen Küste ein kleines Boot in die Tiefe gezogen hat. Das Boot hatte sich im Netz verfangen und wurde mitgeschleift. Der Fischer ertrank. Vielleicht ist es wirklich so gewesen. An die Theorie mit dem Gewitter glaube ich nicht. Ich erinnere mich zu gut an diese Nacht. Das Meer
war total glatt. Also hat sich auch Nummer zwei erledigt.
Bleiben nur eins und fünf. Punkt fünf verstehe ich überhaupt nicht. Daher muss er wohl auf der Liste bleiben, bis ich Näheres herausgefunden habe.
Plötzlich höre ich drei Geräusche gleichzeitig. Das Knirschen von Autoreifen auf dem steinigen Weg vor dem Tor. Das Knarren des Dachbodenfensters, das geschlossen wird. Die Schritte von Conor, der zu seinem Bett zurückläuft.
Ich knalle mein Tagebuch zu, knipse das Licht aus und krieche unter die Decke.
Fünftes Kapitel
A ls ich am nächsten Morgen erwache, wabert zäher Nebel vor meinem Fenster. Nicht einmal die Gartenmauer kann ich sehen. Ich stoße mein Fenster auf und lehne mich hinaus. Ein dumpfer, klagender Laut ist zu hören, wie das Muhen einer Kuh, die ihr Kalb aus den Augen verloren hat. Es ist das Nebelhorn, das die Schiffe warnt.
So viele Schiffe sind in dieser Gegend schon auf Grund gelaufen und an den Felsen zerschellt. Dad hat mir alle ihre Namen gesagt: die Perth Princess , die Andola , die Morveren , die Lady Guinevere. Viele erlitten Schiffbruch, als sie aus Kriegen zurückkehrten, die über zweihundert Jahre zurückliegen. Man findet immer noch Treibholz von Schiffen, die gegen Napoleon kämpften und niemals heimkehrten. Dad hat mir einmal ein Stück Treibholz mit einem Loch gezeigt, in dem sich früher der Messingnagel eines Schiffs befunden hat.
Ich hielt es hoch und legte meinen Finger über das Loch. Ich versuchte, mir vorzustellen, was für ein Gefühl es gewesen sein muss, als das Schiff sank. Der heulende Wind und die tobende See. Sicher schrien die Männer Befehle über das Deck, um das Schiff zu retten. Doch der Wind und die Strömung waren stärker als die Kraft der Männer und so wurde das Schiff gegen die Felsen gedrückt.
Die scharfen Felsen rissen die Schiffswand auf, und das
Wasser flutete hinein, während die Männer sich verzweifelt zu retten versuchten. Doch blieb ihnen nur der Sprung in das tosende schwarze Meer.
Jungen in Conors Alter haben auf solchen Schiffen gearbeitet. Vielleicht sind sie die Masten hinaufgeklettert, so hoch sie nur konnten, und klammerten sich an die Spieren, während das Schiff sich zur Seite legte, wie ein stürzendes Pferd, das sich schließlich das Genick bricht.
Sie hatten keine Chance. Das Meer wird mit jedem Schiff fertig. Die Felsen sind zu weit vorgelagert, als dass man die Schiffbrüchigen mit Tauen hätte an Land ziehen können. Und bei stürmischer See ist es unmöglich, ein Rettungsboot zu Wasser zu lassen.
Das Nebelhorn tutet erneut. Gefahr, sagt es. Haltet euch fern. Gefahr . Ich hoffe, die Schiffe beherzigen die Warnung.
Mum ist aufgestanden. Ich höre sie in der Küche rumoren. Von Conor höre ich nichts.
Mein Herz pocht vor Angst. Barfuß und auf Zehenspitzen schleiche ich zur Leiter und krabbele leise wie ein Eichhörnchen so weit hinauf, dass ich Conors Bett sehen kann.
Er ist da. Ich sehe, wie sein Hinterkopf unter der Decke hervorschaut. Er schläft tief und fest.
Ich klettere die Leiter wieder hinunter, gehe ins Badezimmer und ziehe Jeans und Sweatshirt an. Wenn ich mich beeile, kann ich mit Mum reden, bevor Conor aufwacht. Vielleicht kann ich ihr doch davon erzählen, was gestern passiert ist, kann sie fragen, was wir dagegen tun können.
Doch sobald ich Mum sehe, weiß ich, dass es völlig ausgeschlossen ist, ihr irgendetwas über Conor und das Meer und das Mädchen und meine Angst zu sagen. Am helllichten
Tag hat das keinen Sinn. Sie würde nicht verstehen, warum ich mir Sorgen mache.
»Das war bestimmt eine Schulfreundin«, würde sie sagen. »Conor kann nicht immer mit dir zusammen sein, Saph. Er wird älter.«
Mum hat viel zu tun. Sie kocht Kaffee, bügelt ein Kleid für die Arbeit und schält Kartoffeln – alles zur selben Zeit. Sie hat das Radio eingeschaltet und summt ein Lied namens Happy Days mit, das in diesem Sommer alle halbe Stunde gespielt wird.
Happy days babe,
I got them for you,
the morning sunshine,
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