Nixenblut
doch gut, mal ein paar andere Gesichter zu sehen. Du könntest wirklich ein bisschen offener sein, Sapphy. Du bist wie eine … eine Seeanemone. Wenn dir irgendjemand zu nahe kommt, dann machst du zu.«
»So überleben die Seeanemonen«, entgegne ich.
»Ja, aber du verschließt dich auch vor mir und ich bin deine Mutter. Das ist einfach eine schlechte Angewohnheit von dir geworden. Wir sind hier verwöhnt – wir brauchen niemanden zu sehen, wenn wir das nicht wollen. Würden wir in der Stadt wohnen, dann müsstest du mit den verschiedensten Leuten zurechtkommen. Vielleicht würde dir das gut tun. Du kannst nicht immer nur in deiner eigenen kleinen Welt bleiben.«
»Wir ziehen nicht um, Mum!«, rufe ich aus. Conor und
ich hegen eine heimliche Angst, dass Mum mit uns nach St Pirans ziehen will, wo sie arbeitet, damit sie uns besser im Auge behalten kann. Sie sagt ständig, wie sehr wir das Surfen dort genießen würden, dass es viele tolle Geschäfte und eine ausgezeichnete Schule gäbe.
»Wer hat denn was von Umziehen gesagt?«, fragt sie überrascht. Vielleicht ist sie auch nicht wirklich überrascht. Vielleicht sind das nur vorbereitende Maßnahmen, damit wir uns langsam an den Gedanken gewöhnen.
Aber wir können nicht umziehen. Was ist, wenn Dad zurückkommt, und wir sind nicht da?
»Roger kommt am Sonntag zum Essen, das ist alles«, fährt Mum fort. »Ich hab Sonntag meinen freien Tag. Du wirst ihn mögen, Sapphy, er ist wirklich sehr nett.«
»Nur er?«
»Ja, diesmal nur er«, sagt Mum, die sich über das Bügelbrett beugt und das Bügeleisen mit größter Sorgfalt über den Stoff zieht.
»Hoffentlich hast du Roger auch erzählt, wie sehr du das Meer liebst«, murmele ich so leise, dass sie mich nicht verstehen kann. »Vielleicht willst du sogar mit ihm in seinem Boot fahren?«
Der Erdbeerkuchen ist längst nicht so gut, wie ich dachte, als ich den ersten Bissen nahm. Die Erdbeeren sind matschig, der Teig ist feucht. Einfach widerlich. Deswegen durfte ihn Mum auch mit nach Hause nehmen. Ich kippe den Rest meines Stücks in den Mülleimer und bedecke es mit Kartoffelschalen.
»Mein Gott, Sapphy!«, sagt Mum, als sie aufschaut und sieht, dass mein Teller schon leer ist. »Ich hoffe, am Sonntag schlingst du dein Essen nicht so schnell herunter.«
»Keine Sorge, Mum. Ich werde alles tun, um auf Roger einen guten Eindruck zu machen.«
»Roger?«, fragt eine schläfrige Stimme. »Wer ist Roger?«
In seine Bettdecke gewickelt, erscheint Conor in der Tür.
»Conor, bitte zieh deine Bettdecke nicht über den Boden«, sagt Mum. »Wie oft habe ich dir das schon gesagt? Der Küchenboden ist doch ständig dreckig, weil ihr hier den ganzen Tag mit euren Schuhen rein- und rauslatscht. Sapphy, wann warst du gestern im Bett?«
»Äh, so um zehn, glaub ich. Stimmt’s, Conor?«
»Ja, so ungefähr.«
Conor öffnet den Kühlschrank, nimmt einen Karton mit Orangensaft und setzt ihn an den Mund. Doch er berührt ihn nicht mit den Lippen. Conor hat die Methode perfektioniert, den Strahl direkt in seinen Mund laufen zu lassen, ohne sich zu verschlucken oder zu kleckern.
»Nimm dir ein Glas«, sagt Mum, so wie immer.
»Spart den Abwasch«, entgegnet Conor, auch wie immer. »Wer ist Roger?«, fragt er erneut, während er den Karton zurück in den Kühlschrank stellt.
»Ein Freund«, antwortet sie.
»Ein Taucher«, füge ich rasch hinzu. »Er gehört zu einer Gruppe von Tauchern, die nach Schiffwracks suchen. Sie wollen vor unserer Bucht tauchen, weil sie glauben, dass dort ein Wrack liegt. Sie kommen am Sonntag, nicht wahr, Mum?«
Conor steht regungslos da. Ein Flackern huscht durch seine Augen, aber ich weiß nicht, was in seinem Kopf vor sich geht.
»Oh, okay«, sagt er schließlich, als gäbe es nichts mehr zu sagen. Als würde es ihm nichts ausmachen, wenn zwanzig
Rogers in unsere Bucht und am Sonntag in unser Haus kämen. Ich starre ihn verständnislos an, aber er schaut nur unbeteiligt zurück.
»Conor, würdest du jetzt endlich die Decke vom Boden aufheben?«, sagt Mum. »Ich hatte diese Woche keine Zeit, ihn zu wischen, und heute habe ich Frühdienst. Wie spät ist es, Sapphy?«
»Hm.« Ich schaue auf mein Handgelenk. Die Uhr zeigt immer noch fünf nach sieben an. Aber der Radiowecker blinkt. 8:52.
»Gleich fünf vor neun.«
»Oh nein, ich muss gleich los. Conor, wir brauchen heute Eier und Kartoffeln. Zwölf Eier, und sieh bitte im Karton nach, ob sie noch heil sind. Wenn Badge dir helfen kann, dann
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