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Nixenblut

Nixenblut

Titel: Nixenblut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Dunmore
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Schhhh , wenn sich das Wasser wieder zurückzieht. Mein Fenster ist geschlossen, doch das Meer klingt so, als wäre es bei mir im Zimmer.
    »Sapphire!« Conors Stimme lässt mich zusammenzucken. Er ist die Leiter zu mir heruntergeklettert, ohne dass ich es bemerkt habe. Und mit einem Mal begreife ich, dass ich gar nicht mehr im Bett liege. Ich stehe an meinem Fenster, das keineswegs geschlossen ist, sondern weit geöffnet. Doch habe ich keine Ahnung, wie ich hierher gekommen bin oder wer das Fenster geöffnet hat. Bin ich es selbst gewesen?
Meine Hand ruht auf der Fensterbank und das Brüllen des Meeres ist lauter als je zuvor. Eine mächtige Welle schlägt dröhnend an den Strand, während die Gischt aufwirbelt.
    »Was machst du da?«, fragt Conor mit Schärfe.
    »Was?«
    »Mach das Fenster zu, Saph, und zwar sofort! Ich muss mit dir reden.«
    Langsam und widerwillig drücke ich gegen das Fenster, doch der Wind leistet mir Widerstand. Das Fenster will offen bleiben, weit offen, damit das Geräusch des Meeres an mein Ohr dringen kann.
    »Mach es zu, hab ich gesagt!«
    Die Schärfe in Conors Stimme veranlasst mich, das Fenster mit aller Kraft zu schließen und den Haken zu befestigen.
    »Mum brät Würstchen. Sie macht ein spätes Frühstück für dich, Saph. Hör zu, was ich Mum erzählt habe, damit du ihr dasselbe sagen kannst. Ich hab ihr gesagt, dass du mitten in der Nacht aufgewacht bist, dass du einen Albtraum hattest und es ewig gedauert hat, bis du wieder eingeschlafen bist. Darum liegst du angeblich auch immer noch im Bett. Mum macht sich wirklich Sorgen um dich, Saph. Sie denkt, du bist krank. Sie hat nach dir geschaut, als du geschlafen hast, und sie sagte, du siehst gar nicht gut aus.«
    »Mir geht’s gut.«
    »So siehst du aber nicht aus. Schau doch mal in den Spiegel. «
    Ich gehe zu der Frisierkommode, die Mum für mich auf einer Auktion in Penzance erstanden hat. Auf der Kommode steht ein Spiegel mit einem hölzernen Fuß. Mum hat ihn gekauft, nachdem Dad verschwunden war. Sie kaufte auch ein
paar Schablonen. Dann haben wir den Fuß weiß angestrichen und mithilfe der Schablonen mit kleinen Muscheln verziert, die ich meerblau ausgemalt habe. Auch den Rand des Spiegels habe ich mit kleinen Muscheln versehen.
    Wegen der Dachschräge in meinem Zimmer muss man sich bücken, um in den Spiegel zu schauen.
    Ich beuge mich also nach unten und starre in den Spiegel. Das Glas ist alt, und wenn man es ansieht, kommt es einem so vor, als blicke man in eine andere Welt. Der Spiegel ist angelaufen und fleckig und hat einen grünlichen Schimmer, als wäre man unter Wasser. Mein Spiegelbild sieht blass aus, mein Haar hängt wie Tang über meinen Schultern. Meine Augen haben sich zu großen schwarzen Pupillen reduziert. Sehe ich wirklich so aus?
    »Mum meint, du siehst aus, als hätte man dich aus dem Wasser gezogen«, sagt Conor.
    Aber ich nehme keine Notiz von ihm. Seine Stimme klingt fern, als wäre er gar nicht in meinem Zimmer. Ich beobachte, wie das Licht in Wellen über mein Spiegelbild flutet, gleich einer Woge, die den Strand überspült. Wie im Traum wandern die Wellen über das Glas, und während ich sie zu zählen beginne – eins, zwei, drei, vier… –, höre ich wieder das Geräusch des Meeres, diesmal süß und verlockend, wie ein Atem an meinem Ohr, der immer eindringlicher wird.
    Fünf Faden tief
liegt dein Vater, Kind,
sein’ Gebein sind nun Korallen,
Perlen seine Augen sind …
    Wer singt dort? Warum sind die Stimmen so kraftvoll und klar? Ich muss sie sehen. Ich lehne mich näher an den Spiegel heran.
    »Hör auf, Sapphire! Geh vom Spiegel weg!«
    Aber ich kann nicht weggucken. Der Gesang des Meeres ist so verlockend, dass ich ihm für immer lauschen möchte. Weiter und weiter zieht es mich in die grüne Tiefe des Spiegels hinein.
    Dann höre ich ein Klirren. Der Gesang hat ein Ende. Der Zauber ist gebrochen. Mein Spiegel ist nichts weiter als ein Secondhandspiegel, der in Scherben, mit dem Gesicht nach unten, auf dem Boden liegt. Was ist geschehen? Und warum liegt meine Bettdecke ebenfalls auf dem Boden ?
    Conor ist schuld. Er hat die Decke über den Spiegel geworfen, damit ich nicht länger hineingucken konnte. Doch ihr Gewicht hat den Spiegel zu Boden gerissen.
    »Was macht ihr da oben?«, ruft Mum von unten.
    »Nichts!«
    »Nichts!«
    »Was war das für ein Krach?«
    »Saph ist aus dem Bett gefallen.«
    »Hört auf mit dem Unsinn, ihr beiden! Die Würstchen sind in fünf Minuten

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