Nixenblut
fertig.«
Ich knie mich hin und drehe den Spiegel vorsichtig um. Das Glas ist in alle Richtungen zersprungen und sieht aus wie ein Seestern.
»Warum hast du das getan?«, fauche ich Conor an. »Du hast den Spiegel kaputtgemacht. Außerdem hast du …«
»Was?«
»Der Gesang … sie haben zu mir gesungen.«
»Wie oft soll ich dir das noch sagen, Saph? Das ist gefährlich. Es hat zu viel Macht. Es ist stärker als wir.«
»Du bist doch selbst in Indigo gewesen, Con. Du bist so ein Heuchler! Du willst es nur nicht mit mir teilen, damit du der Einzige bist, der über Indigo Bescheid weiß. Und über Elvira.«
Doch zu meiner Verwunderung wird Con nicht böse. Er kniet sich neben mich und beginnt vorsichtig, die Glasscherben aufzuheben. Ich kann sein Gesicht nicht sehen, als er sagt: »Es ist nicht, wie du denkst, Saph.«
»Ach, und wie ist es dann? Und wie soll ich Mum das mit dem Spiegel erklären? Die bringt mich um.«
»Ich werde ihr sagen, dass wir rumgetobt haben und ich dabei den Spiegel kaputtgemacht habe. Hör zu, Saph, ich habe große Angst.«
Er hebt sein Gesicht und ich starre ihn an. Was meint er damit? Conor hat eigentlich niemals Angst. Ich bin doch diejenige, die sich vor Angst in die Hose macht, wenn der Wind in stürmischen Nächten um das Haus pfeift. Ich bin doch diejenige, die ängstlich auf das Geräusch von Mums Auto wartet, weil ich mir immer vorstelle, sie hätte einen Unfall gehabt. Conor ist der Besonnene von uns beiden, der genau einschätzen kann, was realistisch ist und was nicht.
Er tut nur so, als hätte er Angst. Aber dann schaue ich ihn wieder an und weiß mit einem Mal, dass er mir nichts vormacht. Sein Gesicht ist angespannt und blass.
»Du bist … zu weit gegangen«, sagt er und sucht nach den richtigen Worten. »Als ich das erste Mal dort war, in Indigo, da verging die Zeit ungefähr so schnell wie bei uns. Als ich nach Hause ging, war es vielleicht ein klein wenig später, als ich gedacht hatte. Man nimmt es kaum wahr. Doch jedes
Mal wenn man dort ist, wird einem mehr von der eigenen Zeit genommen. Es kommt mir so vor, als … als hätte die Zeit in Indigo mehr Macht als unsere Zeit.
Als du an jenem Tag zur Bucht kamst, um mich zu suchen, und mir sagtest, ich sei sieben Stunden fort gewesen, da habe ich dir anfangs nicht geglaubt, obwohl es schon Abend war. Ich dachte, du hättest das nur gesagt, um mir einen Schrecken einzujagen. Doch plötzlich habe ich die untergehende Sonne gesehen.
Und dann, als du das erste Mal in Indigo warst, bliebst du fast einen ganzen Tag und eine ganze Nacht verschwunden. Solch eine Macht hat Indigo auf dich ausgeübt. Aber was hast du gedacht, wie lange du verschwunden warst, Saph? Ich meine, unter Wasser. Wie hast du die Zeit eingeschätzt ?«
Ich versuche, mich zu erinnern, aber es fällt mir nicht leicht. Was habe ich in Indigo getan? Ich habe mit Faro geredet. Wir schwammen durch die Gegend, surften mit den Strömungen, sahen einen Hai, einige Quallen und Spinnenkrabben …
Doch haben wir weder gegessen und getrunken noch geschlafen. In meinem ganzen Leben habe ich tagsüber bisher nicht mehr als zwei bis drei Stunden verbracht, ohne etwas zu essen oder zu trinken.
»Ich weiß nicht. Als ich dort war, schien die Zeit wie im Flug zu vergehen.«
»Das ist es ja, was so unheimlich ist«, entgegnet Conor. »Was glaubst du, wie lange du nächstes Mal in Indigo bleiben wirst? Wie viel deiner menschlichen Zeit wird das auffressen ? Vielleicht Tage … Wochen … oder noch mehr?«
»Ach komm schon, das kann doch nicht sein. Das hört
sich an wie die Gruselgeschichte über Rip van Winkle, der nach hundert Jahren nach Hause zurückkehrt, und seine gesamte Familie und alle seine Freunde sind gestorben. So was passiert doch nicht in Wirklichkeit. Ich kann nach Hause kommen, wann ich will.«
»Aber du weißt nicht, wie viel Zeit dann vergangen ist, das ist der springende Punkt. Sobald du in Indigo bist, verlierst du das Gefühl für die menschliche Zeit. Du willst sie vergessen. Schau doch nur, wie viel Macht Indigo eben über dich hatte, als du den Gesang gehört hast. Du glaubst, ich wüsste nicht Bescheid? Du hättest dein Gesicht im Spiegel sehen sollen! Ich dagegen habe den Gesang überhaupt nicht gehört. Nach nur einem Besuch bist du schon viel tiefer in Indigo, als ich es je gewesen bin, Saph. Dein Wesen verändert sich. Du hast ja keine Ahnung, was Indigo mit dir anstellt.«
»Das ist nicht wahr! Du bist doch derjenige, der sich
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