Nixenblut
Kiesweg gestürzt. Durchgebrannt. Er ist abgehauen, weil er jemand Besseres gefunden hat. Deswegen ist Mathew Trewhella verschwunden. Jeder weiß das, nur seine Familie will es nicht wahrhaben.
Ich wollte den Schulhof verlassen und einfach nach Hause laufen, aber das tat ich nicht. Ich laufe vor niemandem davon. Josie starrte mich an mit ihrem bescheuerten Lächeln, dabei war sie auch ein bisschen erschrocken über ihre eigenen Worte. Ein Haufen Leute hatte sie gehört, also konnte sie nicht einfach so tun, als wäre nichts geschehen. Katie sagte: »Halt’s Maul, Josie!«, aber die anderen Mädchen haben mich bloß angeglotzt. Wahrscheinlich waren sie verlegen, oder sie wussten nicht, was sie tun sollten, aber damals dachte ich, sie wären auf Josies Seite.
Ich konnte mich nicht länger beherrschen. Ich packte sie an den Schultern und stieß sie so hart, wie ich konnte, gegen die Mauer. Sie fiel hin und fing so laut an zu heulen, dass sich alle Mädchen sofort um sie scharten und ihr aufhalfen. »Meine Hand, sie hat meine Hand verletzt!«, plärrte Josie, und auf einmal war alles meine Schuld, nicht ihre.
Doch das Schlimmste war, dass Mrs Tehidy gesehen hat, wie ich Josie gegen die Wand gestoßen habe. Sie eilte sofort zu ihr hin, legte Josie den Arm um die Schultern und nahm sie mit in ihr Büro, um ihre Hand zu untersuchen.
»Mit dir rede ich später, Sapphire!«, rief sie über die Schulter.
Mrs Tehidy hatte nicht gehört, was Josie über Dad gesagt hat. Ich will diese Worte nie, nie wieder hören, deshalb habe ich auch nichts von ihnen erzählt. Katie wollte es tun, aber ich habe sie nicht gelassen. Also wurde ich zu Mr Carthew
geschickt, der mir sagte: »Ich bin enttäuscht von dir, Sapphire. Gewalt löst keine Probleme.«
Wirklich nicht?, habe ich gedacht. Sobald ich aus Mr Carthews Büro heraus war, habe ich Josie aufgesucht. Mrs Tehidy hatte Josies Hand inzwischen gewaschen und ein großes Pflaster darauf geklebt. Josie war auf der Mädchentoilette und hat jedem erzählt, was ich ihr angetan habe. Als ich hereinkam, sind sie sofort verstummt.
»Wenn du noch einmal was über meinen Dad erzählst, dann schubse ich dich in den Graben hinter der Aula, der voller Brennnesseln ist.«
Josie wusste, dass ich es ernst meinte, und alle anderen auch. Ein paar Leute waren auf meiner Seite, weil sie gehört hatten, was Josie zu mir gesagt hat, doch Esther legte Josie ihren Arm um die Schultern und sagte:
»Hör auf, Josie zu tyrannisieren, Sapphire.«
»Josie hat doch angefangen«, gab Katie zornig zurück.
Eigentlich habe ich Schlägereien immer gemieden, aber es ist merkwürdig: Wenn man erst mal damit anfängt, verliert man irgendwie die Hemmungen. Und als Josie mich so verängstigt angeguckt hat, war das ein angenehmes Gefühl. Kann schon sein, dass Gewalt keine Probleme löst, doch Josie hat nie wieder ein Wort über Dad verloren. Conor habe ich auch nichts von der Geschichte erzählt. Der würde sich nur mit Josies Bruder Michael prügeln. Außerdem habe ich mich hinterher auch nicht so toll gefühlt, nachdem sich meine erste Wut gelegt hatte. Ich setzte mich auf einen Baumstumpf am Schultor und dachte darüber nach, was Dad wohl sagen würde, wenn er gesehen hätte, wie ich mit Josie umgesprungen bin. Und vielleicht hat sich Josie wirklich die Hand verletzt. Es war doch ein ziemlich großes Pflaster …
Ich will mich jetzt nicht mit diesen Dingen beschäftigen, sondern an etwas ganz anderes denken. Dennoch ist mein Kopf voll mit Gedanken, auf die ich lieber verzichten würde.
Roger . Ich werfe mich auf die Seite und dresche erneut auf mein Kopfkissen ein. Ich will nicht, dass dieser Roger an unserem Tisch sitzt, womöglich auf Dads Stuhl, und unser Essen isst.
Plötzlich schwappt ein anderer Gedanke in mein Bewusstsein, wie eine erfrischende Welle, die alle Wirren und Sorgen einfach fortspült. Ich muss doch gar nicht da sein, wenn dieser Roger kommt.
Das stimmt. Ich kann einfach irgendwohin gehen, an einen weit entfernten Ort, an dem ich Mums Rufen nicht höre. Und sie hätte auch keine Möglichkeit, mich zu finden. Dieser Gedanke lässt mich lächeln. Ich habe einen Ort, den ich aufsuchen kann, wann immer ich will. Einen Ort ganz für mich allein. Einen Ort, an dem mich niemand findet. Indigo .
Ich kann das Meer hören. Obwohl ich im Bett liege, höre ich das Geräusch der Wellen so deutlich, als läge ich am Strand. Ich höre das Brechen jeder einzelnen Welle, gefolgt von einem lang gezogenen
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