Nixenblut
wachsen.«
Mum lässt mein Haar fallen und schaut auf die Uhr.
»Tut mir Leid, Saph, ich muss …«
Du musst los, ich weiß schon. Aber das sage ich nicht. Ich will nicht, dass der sanfte Ausdruck in Mums Gesicht verschwindet.
»Machst du meine Haare an deinem freien Tag, Mum?«
»Hm, mal sehen …«
Das hatte ich ganz vergessen. An Mums freiem Tag kommt Roger zu Besuch. Vielleicht muss sie deshalb jetzt so dringend los. Vielleicht trifft sie Roger vor der Arbeit. Deshalb trägt sie vermutlich auch ihr Rosenparfüm.
»Ich muss los, Conor wartet auf mich«, sage ich und will mich freimachen, doch erneut hält sie mich fest. Sie streicht über mein verfilztes, zottiges Haar.
»Wir müssen einfach was mit deinen Haaren machen«, sagt sie und schielt auf die Uhr. »Komm, Sapphy, das schaffen wir noch.«
Aber ich will nicht, dass sie es in aller Eile tut, während sie ständig die Uhr im Auge behält. Ich liebe es, wenn wir jede Menge Zeit haben, beieinander sitzen und plaudern. Die Hennakur ist eines der schönsten Dinge, die Mum und ich gemeinsam machen, nur wir beide.
Doch nicht jetzt, da sie am liebsten mit Roger in St Pirans wäre. Ich befreie mich aus ihren Armen.
»Wir machen es ein anderes Mal, wenn du mehr Zeit hast«, sage ich. Aus irgendeinem Grund werden Mums Augen ganz wässrig, als müsse sie gleich weinen. Das macht mich so nervös, dass ich sofort »Mach’s gut, Mum, hab einen schönen Tag!« rufe und aus der Tür laufe. Dieses eine Mal ist sie es also, die im Haus zurückbleibt und sieht, wie ich verschwinde.
»Du hast ihr doch nichts erzählt, oder?«, fragt Conor.
»Nein.«
»Das darfst du auch nicht. Mum macht sich schon genug Sorgen. Außerdem würde sie denken, wir wären übergeschnappt. Diese Geschichte nimmt uns doch niemand ab.«
Unsere Turnschuhe wirbeln beim Laufen Kiesel und Staub auf. Und während die kleinen Steine unter meinen Sohlen knirschen, wird mir auch klar, welches Geräusch ich nicht mehr höre. Ich höre keine sanften Stimmen mehr, keinen verlockenden Gesang. Der Sog des Meeres ist verschwunden. Wann hat er aufgehört? Während Mum mit mir sprach? Es besteht kein Grund zur Eile mehr, ich spüre kein Verlangen. Meinetwegen können Conor und ich zur Bucht hinuntergehen, wir können es aber auch bleiben lassen.
Als wir zwischen den hohen Hecken um die Ecke biegen, sehen wir jemand mitten auf dem Weg stehen. Es ist Granny Carne.
»Was macht die denn hier?«, murmelt Conor. Granny Carne ist tatsächlich nur selten in der Nähe des Meeres zu sehen. Sie hält sich meistens im Hügelland auf, dort, wo auch ihr Haus steht und das Mittsommernachtsfeuer entzündet wird. Ihr Haus liegt halb in den Hügeln verborgen. Man könnte auch sagen, es wächst förmlich aus der Erde heraus. Darum ist ihre irdische Zauberkraft auch so groß, weil sie der Erde so nah ist.
»Keine Ahnung«, antworte ich. Ich habe ein mulmiges Gefühl. Wenn ich Granny Carnes Augen sehe, habe ich immer das Gefühl, sie weiß Dinge über mich, die ich selbst nicht weiß.
Sie wartet darauf, dass wir zu ihr kommen. Groß und erhaben
steht sie da, wie ein alter Baum, der sich aus der Erde erhebt.
»Wie geht es eurer Mutter?«, fragt sie. Ihr bernsteinfarbener Blick wandert über unsere Gesichter.
»Ihr geht’s gut«, antwortet Conor.
»Wirklich? Hm, wartet mal … es ist jetzt über ein Jahr her, dass Mathew verschwunden ist.«
Die Art, wie sie Dads Namen ausspricht, erinnert mich daran, dass sie befreundet waren. Dad hat sie gekannt, seit er ein Junge war. Und er hat gesagt, dass sie schon immer so alt gewirkt habe wie heute. Granny Carne verändert sich nicht so, wie andere Leute sich verändern.
»Mein Vater ist ertrunken«, sagt Conor plötzlich. »Das ist es jedenfalls, was die Leute alle behaupten.«
»Aber sie haben ihn nie gefunden«, entgegnet Granny Carne. »Wie sonderbar. Normalerweise wird ein Ertrunkener irgendwann an Land gespült, wenn auch erst nach Wochen oder Monaten. Glaubst du, dass dein Vater ertrunken ist, Sapphire?«
»Ich weiß nicht …«
Ich weiß nicht, was ich sagen soll, doch merkwürdigerweise macht mir ihre Frage nichts aus. Sie spricht nicht so wie die anderen Leute, deren Fragen vor Neugier und Mitleid nur so triefen. Granny Carne fragt aus einem bestimmten Grund. Conor tritt näher an sie heran, als wolle er sie um Hilfe bitten.
Obwohl sie Granny genannt wird, hat sie keine Enkelkinder. Ich glaube auch nicht, dass sie eigene Kinder hat. Sie hat ihr erdverbundenes
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