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Nixenblut

Nixenblut

Titel: Nixenblut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Dunmore
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Leben immer allein gelebt, in ihrem Haus zwischen den Hügeln. Manchmal suchen die Leute sie auf, wenn sie Hilfe brauchen. Sie tun das heimlich und erzählen nicht einmal ihren Freunden oder ihrer Familie
davon. Sie klopfen an ihre Tür und warten auf Antwort. Die Leute sagen, Granny Carne könne in die Zukunft blicken. Manchen sagt sie ihr Schicksal voraus. Ich weiß nicht, wie sie das macht, aber ich finde das unheimlich.
    Dad hat mir mal erzählt, dass sich die meisten Leute in dieser Gegend schon irgendwann an Granny Carne gewandt haben, wenn sie ihre Hilfe nötig hatten.
    »Was für Hilfe, Dad?«
    »Zum Beispiel Hilfe, um eine Entscheidung zu treffen. Um ein Problem zu lösen, das sie beschäftigt. Um über die Gegenwart hinauszublicken.«
    »Wer kann denn über die Gegenwart hinausblicken?«
    »Die Leute sagen, dass sie es kann«, sagte er. Ich hatte das Gefühl, dass er mir etwas verheimlicht.
    »Hast du sie jemals aufgesucht, Dad?«
    »Wir haben uns oft gesehen.«
    »Du weißt, was ich meine. Hast du sie schon einmal über die Zukunft befragt?«
    »Ja, ein Mal.«
    »Was genau wolltest du wissen?«
    »Nun, ich wollte wissen, ob du diesen Schnuller, den du mit fast drei Jahren immer noch benutzt hast, jemals loswerden würdest. Oder ob du ihn vielleicht später zusammen mit deinem Lunchpaket mit in die Schule nimmst.«
    »Ach, Dad!« Die Antwort hat mich damals geärgert. Aber er hätte mir sowieso nicht die Wahrheit erzählt, auch wenn ich weitergefragt hätte.

    »Mathew kennt diese Küste so gut wie seinen Handrücken«, sagt Granny Carne. »Und in der Nacht, als er verschwand, war das Meer völlig ruhig.«

    Mathew kennt , sagt sie. Nicht Mathew kannte . Sie spricht von ihm immer noch in der Gegenwartsform. Also glaubt auch sie, dass er immer noch am Leben ist. So wie Conor und ich. Und wenn sie wirklich in die Zukunft blicken kann, dann weiß sie vielleicht, dass er noch lebt. Vielleicht kann sie sehen, dass Dad zurückkommen wird.
    »Aber wo ist er, wenn er nicht ertrunken ist?«, fragt Conor.
    »Ich glaube, er ist irgendwo weit, weit weg.«
    »In Indigo!«, sage ich plötzlich, ohne dies eigentlich sagen zu wollen. Granny Carnes bernsteinfarbene Augen blitzen mich an. Ich fühle mich wie eine Feldmaus, die plötzlich den flammenden Blick einer jagenden Eule auf sich spürt.
    »In Indigo, sagst du? Wie merkwürdig, das aus deinem Mund zu hören, Sapphire, denn als ich euch eben den Weg entlanggehen sah, dachte ich, dass ich etwas von Indigo in deinem Gesicht entdecke. Auch in Conors Gesicht erkenne ich ein wenig davon, aber nicht so stark wie bei dir.«
    Sie weiß es, dachte ich. Aber woher weiß sie es? Und wie viel weiß sie?
    »Was ist Indigo?«, frage ich sie.
    »Ich denke, das weißt du selbst«, antwortet Granny Carne. Jetzt fühle ich mich wie eine Feldmaus, wenn die Eule mit gespreizten Klauen zum Sturzflug ansetzt. »Indigo ist ein Ort mit vielen Namen«, erklärt sie. »Du kannst auch Mer, Mare oder Meor dazu sagen. Und es hat seinen eigenen Morveren-Namen, aber den sprechen wir nicht aus, solange wir mit beiden Beinen fest auf der Erde stehen. Die Erde und Indigo, das passt nicht zusammen, obwohl wir Seite an Seite leben. Die Erde und Indigo kommen nicht immer gut miteinander aus. Kennst du den alten Namen für Indigo,
Sapphire? Den alten Morveren-Namen?« Granny Carne stellt diese Frage nur beiläufig, doch jetzt ist mir die Eule so nah, dass ich das Schlagen ihrer Flügel hören kann. Sie will wirklich wissen, was ich alles weiß. Aber was bedeutet es, wenn ich den Morveren-Namen kenne?
    »Nein«, antworte ich unwillig, weil ich ihn jetzt gern kennen würde. Ich wünschte, ich wäre ein Teil von Indigo und würde alles darüber wissen.
    »Aber du weißt, wer die Morveren sind?«
    »Nein, nicht wirklich.«
    »Aha.«
    Ich glaube, sie ist froh, dass ich es nicht weiß. Plötzlich erlischt das wilde Funkeln ihrer Eulenaugen und sie ist wieder eine alte Frau. Granny Carne dreht sich um, greift in die Hecke und zieht eine pralle, glänzende Brombeere heraus. Schon der Anblick genügt, um zu wissen, dass sie warm und reif ist. Eigentlich können sie um diese Jahreszeit noch gar nicht reif sein, es ist doch erst Ende Juli. Ich bin gestern hier entlanggegangen und habe keine einzige reife Brombeere gesehen.
    »Nimm diese, Sapphire, ich werde auch eine für Conor finden.« Sie sucht die Hecke ab und hält kurz darauf eine weitere reife Brombeere in der Hand. Ich betrachte meine und bin hin und her

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