Nixenblut
dann wieder weit zu öffnen. Die Menge des Papiers ist immer dieselbe, ganz gleich ob der Fächer geöffnet oder geschlossen ist. Vielleicht besteht die Zeit in Indigo und an Land aus derselben Substanz. Sie ist nur anders gefaltet, deshalb nimmt man sie auch anders wahr. Wenn ich in Indigo bin, kommt
mir die Zeit ganz natürlich vor. Wenn ich an Land, also zu Hause bin, habe ich dasselbe Gefühl. Aber ich kann doch nicht zu beiden Zeiten gehören, oder?
Ich muss aufhören, darüber nachzudenken. Das Grübeln bereitet mir Kopfschmerzen. In Indigo ist es nicht möglich, sich Luftgedanken zu machen.
»Er ist ein Taucher«, sagt Faro. Seine Stimme ist kalt und hart. Faro hasst Taucher.
»Woher willst du das wissen?«
»Weil wir sein Boot schon früher gesehen haben.«
»Ich kenne ihn«, sage ich.
Plötzlich will ich Roger dafür bestrafen, dass er mit Mum gelacht hat und beide so glücklich und entspannt waren, als gäbe es keine Sorgen auf dieser Welt. Als hätte Dad nie existiert. Roger glaubt wohl, er könne sich aufhalten, wo es ihm passt. Erst macht er sich bei uns zu Hause breit und jetzt will er nach Indigo vordringen und seine Schätze rauben. Aber das werde ich nicht zulassen. Keiner seiner Wünsche wird in Erfüllung gehen.
»Er hält nach Wracks Ausschau«, sage ich voreilig. »Er will mit einem ganzen Team von Tauchern die Gegend absuchen. «
»Der hat hier nichts verloren«, sagt Faro – es klingt wie ein Echo meiner eigenen Gedanken. »Er soll bleiben, wo er ist.«
»Dies ist unsere Bucht, nicht seine.«
»So sind die Luftwesen. Sie machen vor nichts Halt.«
Es gefällt mir, dass Faro und ich in Bezug auf Roger einer Meinung sind. Das tut mir gut und lässt die leise Stimme verstummen, die mir sagt, ich hätte ihm nichts von Rogers Plänen erzählen sollen. Schließlich hatte ich es versprochen …
Nein, hast du nicht. Du hast nur versprochen, deinen Schulfreunden und den Nachbarn nichts zu verraten, sage ich mir. Dennoch habe ich ein mulmiges Gefühl. Eigentlich hat Roger alles selbst zu verantworten. Würde er einfach dahin zurückgehen, wo er hergekommen ist, wäre alles wieder in Ordnung. Mum würde das schon verkraften. Sie kennt ihn ja noch nicht lange, also würde sie ihn auch nicht so sehr vermissen.
»Ich habe gehört, wie er Mum erzählte, dass sie in der Nähe der Bawns tauchen wollen«, sage ich.
»Was sind die Bawns?«
»Du kennst sie. Das sind diese Felsen im Wasser, die ungefähr eine Meile vor unserer Bucht liegen. Unter Wasser bilden sie ein großes Riff.«
Faros Gesicht erstarrt. »Ihr nennt diese Felsen Bawns ?«
»Ja, wie nennt ihr sie?«
»Das spielt keine Rolle. Er darf dort nicht tauchen.«
»Aber genau das hat er vor.«
»Dieser Ort gehört uns. Dort haben wir …«
»Was?«
»Ich kann es dir nicht sagen, Sapphire. Aber eins steht fest. Dieser Roger wird dort nicht tauchen. Ganz Indigo wird sich dagegen zur Wehr setzen.«
Faro fletscht seine perfekten Zähne. Indigo leuchtet aus seinen wild entschlossenen Augen. Plötzlich ist er mir fremd. Doch dann verebbt sein Zorn und er ist wieder der alte Faro. Mein Freund und Begleiter in Indigo. »Nimm mein Handgelenk, Sapphire«, sagt er. »Wir müssen zurück. Wenn du vor ihm nach Hause kommst, kann er nicht glauben, dass er dich wirklich im Sonnenwasser gesehen hat. Er wird glauben, es sei ein Traum gewesen.«
Ich denke an Rogers bestürztes Gesicht und bin mir nicht sicher, ob er den Vorfall so einfach vergessen oder für einen Traum halten wird. Roger sieht mir nicht aus wie jemand, den man leicht zum Narren hält. Aber wie soll er Mum nur weismachen, dass er mich unter der Wasseroberfläche gesehen hat? Sie würde ihn für verrückt halten. Vermutlich würde sie ihn auch nicht mehr zum Essen einladen und mit ihm Karten spielen wollen.
Meine Hand schließt sich um Faros Handgelenk wie ein Armreif.
»Wo sind wir jetzt, Faro? Sind wir weit vom Ufer entfernt? «
»Nein, nicht besonders. Aber es kommt natürlich darauf an, wie wir zurückreisen«, sagt er geheimnisvoll. »Es könnte sogar noch schneller gehen als mit einer Strömung. Wart’s ab.«
Seite an Seite treiben wir im Wasser. Ich weiß nicht, wonach Faro Ausschau hält, und ich höre auch nicht, wonach er lauscht. Sein Blick ist ernst und konzentriert. Er sieht aus wie ein Surfer, der gespannt auf die nächste Welle wartet.
Plötzlich wendet er sich mir zu, sein Gesicht vor Erregung gerötet. »Sie kommen! Sie sind schon ganz nah, pass
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