Nixenblut
während ich fort war? Wollen wir morgen die Schule sausen lassen und stattdessen fischen gehen?« Es gibt keinen Roger und keine Kartenspiele mehr, und Mum sitzt auch nicht wie neugeboren mit einem fremden Mann am Küchentisch, wo eigentlich Dad sitzen sollte. Die Delfine haben die Macht, alles Schlechte und Falsche verschwinden zu lassen und alles, was ich liebe, zum Leben zu erwecken.
»Faro!«, rufe ich erneut, weil ich ihm sagen möchte, wie wunderbar alles sein wird. Er ruft etwas Unverständliches zurück, bevor wir wieder ins Meer eintauchen, in die Tiefe schießen und am klar erkennbaren Wirbel einer Strömung entlangjagen. Plötzlich tut sich weißer Sand vor mir auf, und ich weiß, dass wir an die Grenze von Indigo gelangt sind, wo Erde und Wasser aufeinander treffen.
Unsere Delfine werden langsamer. Ich spüre, wie sich mein Körper vom Rücken des Delfins löst. Er lässt mich absteigen und ich muss mich von ihm trennen. Dabei möchte ich so gerne bleiben.
»Kann ich dich wiedersehen? Bitte!«, sage ich, doch er schiebt mich sanft dem Strand entgegen, als wolle er mir zeigen, wohin ich gehöre. Ich muss Indigo verlassen. Ich bin ein Mensch, keine Mer.
»Aber ich gehöre doch auch zu Indigo«, flüstere ich, während er mich mit seinen schmalen Augen nachdenklich ansieht.
»Geh nicht fort!«, bitte ich ihn. Doch ich weiß, dass er mich verlassen und seine Magie mit sich nehmen wird.
Die Delfine wenden ihre stumpfen Nasen dem tiefen Wasser zu und schießen davon. Das Pfeifen und Schnalzen verhallt. Sie sind verschwunden.
»Ich wollte ihnen noch danken«, sage ich, doch Faro geht darauf nicht ein.
»Von hier kannst du an Land schwimmen. Beeil dich!«, sagt er.
Er kann mich nicht weiter begleiten, weil das Wasser zu seicht wird. Aber ich werde mich nicht von ihm trennen, ohne ihm eine Frage zu stellen, die mich nicht loslässt. »Wie kommt es, Faro, dass ich immer nur dich sehe? Wo sind all die anderen Mer? Ich habe nicht mal Elvira gesehen.«
»Du hast doch gerade die Delfine kennen gelernt.«
»Ja, aber ich rede von Leuten wie dir.«
Faro wirft ärgerlich seinen Kopf zurück. »Das ist so typisch für euch, Sapphire! Immer geht es um Leute, Leute, Leute, als gäbe es nichts Wichtigeres.«
»So meine ich das doch gar nicht. Ich fand die Delfine
ganz wunderbar … «, beginne ich, doch selbst in meinen Ohren hört sich das albern an.
»Du meinst wohl, du kannst alles haben«, schnauzt er mich an. Er ist jetzt fast so wütend wie vorhin, als er über Ölverschmutzung und tote Seevögel redete. »Glaubst du wirklich, du könntest eine gemütliche Rundreise durch Indigo machen und uns anstarren wie Tiere in einem Zoo? Ja, da staunst du, aber ich weiß alles über eure Zoos. Du glaubst, du könntest unsere Geheimnisse kennen lernen und dann wieder nach Hause gehen. Aber so einfach ist das nicht. Solange du ein Luftwesen bist, wirst du so viel von Indigo kennen lernen.« Er taucht zum Meeresgrund, nimmt eine Hand voll Sand und lässt ihn sich durch die Finger gleiten, bis nur noch ein Körnchen übrig ist. Das Sandkorn hält er mir vor die Augen. » So viel!«
»Aber du hast doch selbst gesagt, dass auch ich Mer in mir habe«, sage ich eingeschnappt.
»Das stimmt.« Faro sieht mich ernst an. »Deshalb können wir uns auch treffen, Sapphire. Weil ein bisschen von einer Mer in dir steckt. Aber ich weiß immer noch nicht, wie viel und wie stark es ist. Und du weißt es auch nicht, oder?«
»Wenn ich mit dir spreche, Faro, habe ich manchmal das Gefühl, dass ich gar nichts mehr weiß. Ich bin so verwirrt.«
Faro lässt das Sandkorn los, das langsam auf den Meeresgrund sinkt, um sich dort mit seinen Brüdern und Schwestern zu vereinen. »Wir können jetzt nicht länger darüber reden. Du musst dich beeilen. Aber du hast Mer in dir, Sapphire. Und ich …« Er hält inne und schaut mich durchdringend an, als überlege er, ob er mir vertrauen kann oder nicht. »Ich habe …«
Doch in diesem Moment wird das Wasser von einem Geräusch
erschüttert, als sei eine Bombe explodiert. Meine Ohren schmerzen, das Meer dröhnt wie von einem unterirdischen Donner.
»Schnell, Sapphire! Mach, dass du an den Strand kommst! Das Boot kehrt zurück.«
Sobald Faro das ausgesprochen hat, nehme ich das Geräusch eines Motors wahr. Faro packt kurz mein Handgelenk, ehe er mir einen Stoß in Richtung Strand gibt. Ich reite auf der Welle, die er für mich gemacht hat, werde emporgehoben, vorwärts getragen und schließlich
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