Nixenblut
der Bibel ebenfalls nach einem Schiffbruch gerettet worden war. Die Treveals haben ihn damals bei sich aufgenommen und so wuchs er gemeinsam mit ihren Kindern auf. Er liegt heute auf dem Friedhof begraben.
Als das Schiff unterging, war Petrus in meinem Alter gewesen. Er war der einzige Überlebende des Unglücks. Niemand hat je herausgefunden, woher das Schiff kam oder welche Fracht es mit sich führte. Auch nachdem er Englisch gelernt hatte, sprach er nie über den Untergang oder sein früheres Leben. Auf seinem Grabstein steht, er sei
1852 gestorben. Er heiratete Miriam Treveal und bekam acht Kinder mit ihr. Von diesen acht Kindern hatte wiederum jedes acht Kinder, die ihrerseits acht Kinder hatten und so weiter… So hat es mir Dad erzählt. Also haben alle Leute in dieser Gegend zweifellos einen Tropfen vom Blut des geretteten Jungen in sich.
Selbst an einem ruhigen Tag würde Dad die Bawns meiden.
»Mach immer einen großen Bogen um das Riff, Sapphire, auch wenn du eines Tages alt genug sein wirst, um allein mit dem Boot rauszufahren. Dieser Ort hat zu viel Macht und einen unstillbaren Hunger nach Booten und Menschenf leisch. Ihm zu nahe zu kommen, heißt seinen Kopf in den Rachen eines Wolfs zu legen.« Nachdem Dad das gesagt hatte, konnte ich am äußersten der Felsen stets den Kopf eines Wolfs erkennen. Selbst beim Fischen sind wir dem Riff nie zu nahe gekommen. Doch jetzt hat Roger Conor dorthin mitgenommen. Und Conor muss einverstanden gewesen sein, obwohl er genau weiß, wie gefährlich es ist.
Ich eile die Treppe hinunter. »Hast du Roger denn nicht gesagt, dass er Conor nicht dorthin mitnehmen soll?«
»Roger ist ein sehr erfahrener Taucher, Sapphy. Er kann die Risiken schon richtig einschätzen.«
»Aber er kennt die Küste doch längst nicht so gut wie wir. Das Riff ist gefährlich.«
Ein Anflug von Unsicherheit huscht über Mums Gesicht, doch sie nimmt sich zusammen und entgegnet leichthin: »Bei Roger kann Conor nichts passieren. Außerdem ist die See heute vollkommen ruhig. Hast du eigentlich schon die Wäsche sortiert? Ich will mit der weißen anfangen.«
»Aber Mum, sie sollten da nicht hinfahren!« Doch sie hört
mir nicht zu. Ich kann nicht verstehen, dass ausgerechnet sie, die so große Angst vor dem Meer hat, das erlaubt hat. Sie, die jedes Mal, wenn Dad mich mitnehmen wollte, behauptete, es würde ein Sturm aufziehen. Ich erinnere mich noch genau, wie heftig sie mich immer an sich drückte, wenn wir vom Fischen und Fotografieren zurückkamen. Sie war so erleichtert, dass ich fast keine Luft mehr bekam.
Mum hat sogar den hinteren Raum als Schlafzimmer für sich gewählt, weil er nicht zum Meer hinausgeht.
Und jetzt lässt sie es ohne weiteres zu, dass Roger Conor mit hinausnimmt, obwohl er nahezu ein Fremder ist und nicht annähernd so viel über diese Küste und ihre Strömungen weiß wie Dad. Dad kannte das Meer fast ebenso gut wie die Mer.
Aber daran darf ich jetzt nicht denken. Ich darf Mum gegenüber kein Wort über Indigo oder die Mer verlieren. Sie würde das nicht verstehen und nur noch größere Angst vor dem Meer bekommen.
»Wie lange sind sie schon weg, Mum?«
»Mein Gott, Sapphy, jetzt hör auf, so ein Theater zu machen! Conor kann nichts passieren. Roger hat seine vollständige Rettungsausrüstung und sein Handy dabei.«
»Da draußen hat man aber keinen Empfang.«
»Sie testen doch nur den Motor, messen die Wassertiefe und kommen wieder zurück. Und dann werden wir zusammen Tee trinken.«
Ich kann es nicht glauben. Bei Mum klingt das wie eine Geschichte von Enid Blyton: erst ein kleines Abenteuer und dann nach Hause zum Teetrinken. Aber so ist Indigo nicht. Sie waren überhaupt nicht in der Nähe des Riffs, als ich Roger gesehen habe, hätte ich am liebsten gesagt. Sie waren
viel weiter draußen. Den Motor testen? Dass ich nicht lache! Doch nie im Leben könnte ich Mum davon erzählen, wie ich mich im Sonnenwasser treiben ließ und plötzlich den Schatten von Rogers Boot über mir spürte.
»Da sind sie ja!«, sagt Mum und eilt zur Tür. Sie kann ihre Erleichterung nicht völlig verbergen. Sie hat ihre Schritte und Stimmen früher gehört als ich. Rogers dunkle Stimme murmelt etwas und Conor antwortet. Mum errötet leicht. Ein sanftes Lächeln umspielt ihre Mundwinkel, und ich weiß, dass sie glücklich ist, weil Roger und Conor sich gut verstehen. So ist Conor eben. Er tut sich immer leicht, Freunde zu finden.
Conor und Roger ziehen draußen ihre Schuhe aus.
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